Die Hauptgruppe Oldenburg des Gustav-Adolf-Werks e.V. (GAW), dem Diasporawerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, wird am 10. Mai 171 Jahre alt. Das Hilfswerk hat es sich zum Ziel gesetzt, kleine evangelische Gemeinden, die überwiegend als religiöse Minderheiten in ihrem regionalen Kontext leben, zu unterstützen. So werden jährlich Projekte in einem bestimmten Land mit Kollekten und Spenden gefördert – in diesem Jahr ist es Russland.

Zum Jahresfest der Hauptgruppe Oldenburg des GAW am Sonntag, 10. Mai, in der Friedenskirche der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Garrel ist Dr. Elena Bondarenko zu Gast, Pröpstin der zentralen Propstei Moskau und Frauenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands. Sie hält die Festpredigt im Gottesdienst und danach einen Vortrag zum Thema „Lutheraner in Russland – eine neue alte Kirche“.

Antje Wilken hat sich mit Pröpstin Dr. Elena Bondarenko getroffen und mit ihr über die Situation lutherischer Christinnen und Christen in Russland gesprochen:

Frau Bondarenko, wie stellt sich zurzeit die Situation der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland dar?

Mit dem neuen Erzbischof Dietrich Brauer ist vieles anders geworden. Er ist der jüngste und auch erste einheimische Bischof einer lutherischen Kirche in Russland. Er sagt, dass unsere Kirche offen sein und ihren eigenen Platz in der russischen Gesellschaft einnehmen soll. Zum ersten Mal haben wir nun Kontakte zur orthodoxen Kirche geknüpft, gute, stabile Kontakte. Auch gesellschaftlich ist die Situation nicht so schwierig, wie sie schon gewesen ist. Ein großes Problem ist es allerdings, unseren Besitz zurückzubekommen – aller Besitz der Kirchen wurde 1917 nationalisiert. Doch jetzt, nach der sogenannten Wiedergeburt der Kirchen Anfang der 1990er Jahre, hat sich vielfach noch nichts getan. Aber wo sollen sich die Gemeinden versammeln, und wo sollen wir unsere Projekte entwickeln? Im Wolga-Gebiet hat es geklappt, dort haben die Gemeinden ihre Kirchen als Besitz zurückbekommen. Deshalb sind die Gemeinden dort auch sehr stabil. Zudem gibt es gute Beziehungen zur Ortsverwaltung.

Wie kommen solche Beziehungen zustande?

Der Gouverneur einer dortigen Region kommt zum Beispiel zu den lutherischen Gottesdiensten, das ist sehr ungewöhnlich. Er ist orthodoxen Glaubens, aber er findet, es sei seine Pflicht, alle seine Bürger zu besuchen. Die Pröpstin Olga Temirbulatowa aus Samara hat viel für die Verständigung getan und arbeitet bei zwei diakonischen Projekten mit der orthodoxen Kirche zusammen, bei denen uns auch das GAW unterstützt. Einmal geht es dabei um Seelsorge für HIV-Patienten in Krankenhäusern, zum zweiten um warme Mittagessen für Obdachlose.

War es schwer, Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche aufzunehmen?

Zuerst hat uns die russisch-orthodoxe Kirche einfach nicht gekannt. Zu einer Konferenz, organisiert von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vor zwei Jahren in Rostov am Don, wurde auch ein Vertreter der orthodoxen Kirche eingeladen, der Metropolit Hilarion, Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats. Er hat dort unseren Bischof kennengelernt und zum ersten Mal einen Lutheraner aus Russland getroffen, einen lutherischen Bischof, der in Russland geboren ist und in Russland ins Amt eingeführt wurde. Das hatte er nicht erwartet und vorher auch nicht wahrgenommen. Der Metropolit ist ein großer Musikliebhaber und mag besonders Johann Sebastian Bach. Wir haben ihn dann am Karfreitag 2013 zu einer Aufführung von Bachs Matthäus-Passion eingeladen. Er ist gekommen und hat sogar eine Rede von unserer Kanzel gehalten und gesagt, dass die evangelisch-lutherische Kirche in Russland ein wichtiger Partner der orthodoxen Kirche sei. Seit dieser Zeit werden wir auch in alle ökumenischen Konferenzen eingeladen, was früher nicht der Fall war. Das ist eine interessante neue Entwicklung in der orthodoxen Kirche, in ihrer Außenpolitik, die jetzt andere Akzente setzen will.

Wie hat sich die Situation der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland über die Zeit entwickelt?

Ich erwähne in meinem Vortrag „Lutheraner in Russland – eine neue alte Kirche“ eine Statistik: Um 1920 gab es demnach noch ungefähr 80 evangelisch-lutherische Pastoren, 1937 gab es keine mehr. Sie wurden umgebracht. Nur wenige versuchten, auszureisen. Die meisten wurden vor ihren Kirchen erschossen. Jetzt werden wieder russische evangelisch-lutherische Theologen in Russland ausgebildet nach einer Zeit, in der sie lange immer aus Deutschland kamen. Zurzeit gibt es in ganz Russland ungefähr 150 Pastoren, die meisten russischstämmig, davon sind 15 Frauen. Wir haben jetzt nur noch in St. Petersburg einen deutschen Propst von der EKD sowie in Wladiwostok im russischen Fernen Osten. Die Anzahl der Pastoren ist allerdings ein Problem. Die deutschen Pastoren gehen vermehrt in Rente oder sind schon in Rente und wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Die russischen Pastoren wurden am theologischen Seminar in St. Petersburg ausgebildet, aber vor wenigen Jahren hat man das Vollzeitprogramm dort gestoppt, und es gibt nur noch Fernstudenten. Es entstehen jedoch überall freie Stellen, und wir brauche mobile junge Leute, die in diese Gemeinden ziehen und dort wohnen und arbeiten.

Das heißt, es fehlen Pastoren?

Zurzeit haben wir wirklich einen akuten Mangel, besonders im europäischen Russland. Wir haben viele Gemeinden ohne Pastoren. Im Moment ist es fast leichter, eine Stelle zu finanzieren, als einen Pastor zu finden. Es gibt allerdings eine Migration innerhalb Russlands von Osten nach Westen. Von den Lutheranern, die früher nach Osten deportiert wurden, sind viele schon ausgereist, auch nach Deutschland, aber jetzt kommen die restlichen dieser Lutheraner zu uns. Es ist außerdem eine große Freude für uns, dass wir in diesem Jahr viele Konfirmanden in Moskau haben: Sechzehn Erwachsene und neun Kinder – zum ersten Mal nach der Sowjetzeit haben wir eine Gruppe Kinderkonfirmanden. Sie werden zu einem Austausch nach Dresden fahren, um dort das Kirchenleben kennenzulernen und im Herbst kommt eine Gruppe aus Dresden nach Moskau. Ohne Unterstützung der EKD und des GAW wären solche Projekte und die Entwicklung der Kirche allerdings unmöglich gewesen.

Jahresfest der Hauptgruppe Oldenburg des GAW in der Friedenskirche in Garrel
Am Sonntag, 10. Mai 2015, findet das Jahresfest der Hauptgruppe Oldenburg des Gustav-Adolf-Werks e.V. auf Einladung der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Garrel in der Friedenskirche in Garrel statt. Die Festpredigt im Gottesdienst hält Dr. Elena Bondarenko, Pröpstin der zentralen Propstei Moskau und Frauenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands.

Elena Bondarenko (39) stammt aus Samara im Wolga-Gebiet im europäischen Teil Russlands. Sie studierte Englisch und Deutsch und promovierte in Anglistik. Nach dem Abschluss studierte sie als Fernstudentin am theologischen Seminar in St. Petersburg und absolvierte ihr Vikariat in St. Petersburg. 2011 wurde sie zur Pröpstin und Referentin für Außenkontakte der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands in Moskau ernannt. Sie ist zudem Frauenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands.

Das Gustav-Adolf-Werk ist das Diasporawerk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Es wurde im Jahre 1832 in Leipzig gegründet, in Gedenken an den Tod von König Gustav Adolf II. von Schweden. Dieser war 200 Jahre zuvor im Kampf für die evangelische Sache im 30-jährigen Krieg in Lützen bei Leipzig gefallen und wurde darum Namenspatron des Werkes.

Zwölf Jahre später, 1844, wurde auch in Oldenburg ein Zweigverein gegründet. Das Gustav-Adolf-Werk unterstützt die kleinen evangelischen Kirchen und Gemeinden in Europa und Lateinamerika, die in einer überwiegend in Minderheitensituationen – in andersgläubiger Umgebung – leben.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.gaw-oldenburg.de sowie www.gustav-adolf-werk.de 

Source: Kirche-Oldenburg