„Vier Stunden haben wir in unserer Kirche alles ausgemessen, damit wir endlich wieder unseren ersten Gottesdienst feiern konnten!“, erzählte nicht ohne Stolz in der Stimme ein Kirchenältester. „Unser Gottesdienst war voll besucht“, ergänzt ein Zweiter. „Wir haben gleich mehrere Gottesdienste – fast im Stundentakt – angeboten“, erzählt ein Dritter, euphorisch und mit leuchtenden Augen. Sehnsüchtig war die Öffnung der Kirchen für Gottesdienst erwartet worden. Gemeinschaftlich – auch auf Abstand – Gottesdienst feiern. Ich kann das sehr gut verstehen.
   
Genauso verstehe ich aber auch die mahnenden Stimmen, alles „behutsam, achtsam und besonnen“ anzugehen. Nur blieben diese eher im Hintergrund und wurden im Zuge der Euphorie und des Aktionismus kaum wahrgenommen. Dennoch sind die damit verbundenen Fragen eines Kreispfarrers unserer Kirche berechtigt: Entsprechen Gottesdienstfeiern in der Kirche dem Liebesgebot, wenn sie aus Hygienegründen ohne Gesang bleiben und ohne diejenigen stattfinden, die sich wegen ihres erhöhten Ansteckungsrisikos nicht in die Kirche trauen? Wirkt eine Einladung zum Gottesdienst eventuell lieblos, bei der dann konkret mehr Menschen an der Kirchentür abgewiesen werden müssen? Sollten wir im Zweifelsfall darum lieber etwas länger warten, als Menschen weh zu tun?
   
Einen ähnlichen Gegensatz habe ich in den Wochen ebenfalls wahrgenommen. Da wurden die vielen digitalen Angebote gelobt und die hohen Klickzahlen gefeiert. Die vielen kleinen Aktionen in den Gemeinden hingegen, wie die „Gottesdienste in der Tüte“, die „Wäscheleinen der Hoffnung“, die Wiederentdeckung der Schaukästen, Aktionen auf den Kirchhöfen etc.  wurden in der allgemeinen kirchlichen Öffentlichkeit fast ignoriert.
   
Um diese kirchliche Vielfalt wahrnehmen zu können, die sich jetzt entwickelt hat, hilft es vielleicht mal einen Schritt zurückzutreten. Abstand gewinnen von den eigenen Aufgaben, Funktionen und den eigenen Mechanismen, mit denen wir versuchen, die ungewohnte Situation der Corona-Pandemie zu bewältigen. Dieser Schritt mag helfen, einen Blick für den gesamten Strauß kirchlichen Lebens zu bekommen, der in dieser Zeit aufgeblüht ist und weiterhin blüht.
   
Beiseite zu treten, inne zu halten, zur Ruhe kommen, um dabei den Blick weiten zu können, dazu lädt auch der Sonntag „Rogate“ ein. „Rogate“ – „Betet!“ Der Name dieses Sonntags soll zu Gebet und Fürbitte ermutigen.
Wichtig ist mir dabei der Rat Jesu aus der Bergpredigt „Wenn du betest, geh in dein Zimmer. Bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen.“ (Matthäus 6) Dabei muss es nicht das Zimmer sein –  ein ruhiger Ort im Garten oder dort, wo man sich wohlfühlt und wo ich einen Ruhepunkt für meine Seele finde, tut es auch.
   
Wer in seinem Namen bittet, so verspricht Jesus, der stößt bei Gott nicht auf taube Ohren. Das Gebet steht unter der Verheißung des Wochenspruchs: „Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft!“ (Psalm 66,20) Es müssen nicht viele Worte sein. Vielleicht „nur“ ein Vaterunser, aber es führt zum Hören auf Gott. Wir bedenken und erkennen, dass das Leben nicht in unserer Hand liegt – so sehr wir uns auch immer sorgen. Unsere Sorgen und Bitten können wir an Gott weiterreichen. Sein Reich komme. Sein Wille geschehe und er weiß, bevor wir bitten.
   
Das kann der Seele Ruhe und uns Kraft schenken. Ruhepunkte für die Seele, die wir auch weiterhin dringend brauchen werden. Denn die Belastungen für jeden Einzelnen werden auch weiterhin bleiben. Beruflich wie privat, das home-office, das home-schooling, die Abschlussprüfungen der Schülerinnen und Schülern, die Sorge um die eigene Gesundheit und um die der Anderen, die Ängste um den Arbeitsplatz und um die Kinder, Eltern etc.
   
Darum ist die Besinnung auf das Gebet, eine Rückzug auf ein Gespräch, eine Bitte mit Gott aktueller denn je. Unsere Seele braucht diese Zeit, wir sollte sie uns ihn gönnen. Und im Blick auf unsere Kirche hilft es dabei zu erkennen, dass es nicht reicht, sich nach einer Zeit vor Corona zurückzusehnen, sie mit aller Macht wieder herstellen zu wollen, sondern uns hilft, mit der veränderten Vielfalt leben zu lernen.
   
Und noch ein letztes:
Die sogenannten „Hygiene-Demos“ an den vergangenen beiden Wochenenden verwirren mich und machen mir Angst. Es bereitet mir Sorge, wenn Proteste von Menschen, die keine große Lobby haben, von Rechten und Verschwörungstheoretikern für ihre Absichten unterwandert und instrumentalisiert werden. Die Sozialpsychologin Pia Lamberty hat in einem Interview auf SPIEGEL-Online geraten, den Verschwörungserzählungen im halböffentlichen Raum bei Facebook oder in Chatgruppen „klar und ruhig gegen zu argumentieren“. Sich nicht lustig zu machen oder sie zu beschimpfen, „sonst schafft man noch Solidarisierungseffekte.“ Wenn ich die Tageslosung für den heutigen Dienstag (19. Mai) lese, schaffe ich das nicht ganz. Denn dort steht: „So kehrt nun um von euren bösen Wegen. Warum wollt ihr sterben?“ (Hesekiel 33, 11)
   
Aber wir sind hier ja auch nicht bei Facebook. Oder – um es frei mit den Worten des Philosophen Blaise Pascal zu sagen, der zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges gelebt hat: „Die Weltgeschichte sähe besser aus, wenn die Menschen erst einmal in ihr Kämmerchen gingen und beten würden.“
Amen.
   
Eine Andacht von Pfarrer Hans-Werner Kögel

Source: Kirche-Oldenburg