Auf Anregung des Projekts Flüchtlingsarbeit im Kirchenkreis Friesland-Wilhelmshaven, feierten wir in der Christus- und Garnisongemeinde am 17. September 2017 einen Gottesdienst zum Sonntag der Diakonie. Pastor Olaf Grobleben, Beauftragter für Ethik und Weltanschauungsfragen der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg, predigte. Diakonie-Pfarrer Michael Winkel und Pastor Bernhard Busemann gestalteten die Liturgie. Miguel-Pascal Schaar berichtete vom Einsatz der Freiwilligen in der Flüchtlingsarbeit. Wir dokumentieren her die Predigt:
Liebe Gemeinde, der Predigttext aus dem Lukasevangelium, den sie eben gehört haben, kommt Ihnen vielleicht bekannt vor. Er gehört zu den Predigttexten, die seit Jahrzehnten für den Erntedanktag vorgesehen sind, in diesem Jahr übrigens am 4. Oktober als Text für die Lesung des Evangeliums – von mir schon jetzt eine herzliche Einladung zum Besuch des Erntedankgottesdienstes!
Hier und heute feiern wir nun bekanntlich nicht Erntedank, sondern den Sonntag der Diakonie. Und so möchte ich heute versuchen, den Predigttext neu zu hören und in einem anderen als dem gewohnten Zusammenhang neu zu verstehen und zu interpretieren.
Kennen wir den Predigttext (Lukas 12,15 – 21) wirklich? Und können wir ihn neu kennenlernen?
Hören wir noch einmal genau hin auf die bekannten Worte unseres Predigttextes, weil wir beim Vorlesen vielleicht schon gar nicht mehr hinhören. Denn: wir kennen den Text – meinen wir.
15 Und er – Jesus – sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.
16 Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Feld hatte gut getragen.
17 Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle.
18 Und sprach: Das will ich tun: ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen, und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte
19 und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!
20 Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?
21 So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.
Kennen wir den Text wirklich? Ihn zu kennen, in dem Sinne, dass wir ihn sogar auswendig kennen, ist kein Kennen im Vollsinn des Wortes. Kennen im eigentlichen Sinn meint, den Text zu leben.
Hören wir noch einmal auf den Text, diesmal nicht in einer weiteren Übersetzung, sondern in einer modernen Übertragung:
Die reichen Europäer hatten gut verdient. Die Aktienkurse waren gestiegen. Zwar gab es auch in Europa Arme, aber diese waren weniger arm als Menschen in Afrika. Während die Europäer ihren Erfolg feierten, ertranken Tausende Afrikaner, weil sie auch gut verdienen, weil sie mit feiern wollten, aber mit Gewalt von den Küsten Europas fern gehalten wurden. Und Gott sprach – so heißt es in dem Evangelium – Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.
Das hört sich nicht nur ungewohnt an, oder? Sie meinen vielleicht: Diese Übertragung ist zu hart, zu unbarmherzig? Gegenfrage: Was meinen Sie, warum Jesus dieses Gleichnis erzählte? Er wollte ändern, helfen, den Reichen und den Armen. Sehen Sie, unsere Kirchen sind zum Gottesdienst geöffnet. Die Türen stehen offen. Jede und jeder kann eintreten, Platz nehmen, den Gottesdienst zusammen mit den anderen feiern. Das praktizierten bereits die ersten Christen. Da saßen Reiche und Sklaven zusammen und brachen das Brot, feierten das Abendmahl. Das war unerhört in einer Gesellschaft, die auf Sklavenwirtschaft aufgebaut war. Die ersten Christen damals störte das nicht. Warum verstört so viele von uns heute der Gedanke, zumindest einen Teil unseres Wohlstands mit denen zu teilen, die soviel weniger haben als wir und die auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sind? Weil dann weniger Geld auf dem Konto wäre und der Wagen eine Nummer kleiner ausfallen müsste?
Allerdings: Längst nicht alle Bundesbürger können sich diesen Gedanken so unbesehen leisten. Zwar wurde mittlerweile ein Mindestlohn eingeführt. Aber reicht er wirklich aus zur Finanzierung eines angemessenen Lebensstandards? Darüber wird heftig gestritten. Und dass der Mindestlohn längst nicht für eine anständige Rente im Alter ausreicht ist, wie ich finde, ein sozialpolitischer Skandal, und das nicht nur im Blick auf die Deutschen, die ihr Leben lang gearbeitet und in die Sozialversicherung eingezahlt haben. Sicher ist es richtig, dass in unseren diakonischen Einrichtungen wie in vielen Gemeinden hier nicht nur den betroffenen Menschen tatkräftig geholfen wird. Ebenso richtig und wichtig ist es, dass Kirche und Diakonie in der Öffentlichkeit dafür eintreten, dass diese unbequemen Wahrheiten gehört und politisch gelöst werden.
Liebe Gemeinde, in der Bibel heißt es im 2. Korintherbrief: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ Das ist ebenso einfach wie klar und eindeutig formuliert. Warum sollten wir damit nicht gemeint sein? Denn in diesem Satz spricht sich eine Erfahrung aus, die wir auch heute noch machen können: Wer geben kann, kann sich ebenso gesegnet fühlen wie die, die empfangen. Hier kann so etwas wie ein Kreislauf des Segens entstehen: Wenn sich die Gebenden ihrer Privilegien bewusst sind müssen die Nehmenden keine Scham empfinden. Und damit bleibt die Würde aller bewahrt, weil sich Gebende und nehmende auf Augenhöhe begegnen können.
Versuchen wir, diese Einsichten zu übertragen auf den Umgang mit Schutzsuchenden und Geflüchteten. Warum exportieren wir Lebensmittel wie Hühnerteile in afrikanische Länder und schädigen damit die Bauern vor Ort, die ihr selbst produziertes Fleisch aufgrund der in Europa hochsubventionierten Exporte nicht mehr loswerden? Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass unsere Subventionen und Exporte eben nicht nur dazu beitragen, dass afrikanischen Betriebe in vielen Bereichen nicht konkurrenzfähig sind und in den Konkurs gehen. Nein, unsere europäische und die westliche Handelspolitik bildet sicher die Hauptursache für diese Entwicklung. „Europe first“ könnte man dann im Blick auf diesen europäischen Populismus sagen. Oder sollte man dazu lieber schuldbewusst schweigen? Schon seit langem fordert jedenfalls die Diakonie hier ein neues Denken und tritt dafür ein, nicht nur den fairen Handel fördern, sondern auch für eine gerechtere Wirtschaftspolitik im globalen Maßstab.
Und wenn dann Flüchtlinge nach Europa kommen wollen, mauern wir uns ein und halten wir sie von unseren Grenzen fern. Wir unterhalten als EU eine effektive Grenzpolizei. Sie ist mit technischen Hilfsmitteln gut ausgerüstet, um eben effektiv sein zu können. Nun wird in den USA davon geredet, eine lange Mauer an der Grenze zu Mexiko zu bauen, um illegale Flüchtlinge vom Betreten des Landes abzuhalten. Wir in Europa haben bereits zwei dieser Mauern, sie schützen die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla auf afrikanischem Gebiet. Zwar sind diese Mauern im Vergleich zum amerikanischen Plan nicht lang, aber sie erfüllen ihren Zweck. Unsere europäischen Grenzregime sind erfolgreich darin Menschen von Europa fernzuhalten, koste es auch deren Blut und deren Leben. Schließlich nützt, allen politischen Schönwetterreden zum Trotz, diese Politik nur den Schleppern und Schleusern. Jetzt überlegt die EU allen Ernstes, mit afrikanischen Diktatoren und zerfallenden Staaten zusammen zu arbeiten, um Flüchtlinge daran zu hindern, europäischen Boden zu erreichen. Läuft das nicht allen Menschenrechten zuwider?
Bei der Vorbereitung dieser Predigt ist mir ein Satz immer wieder durch den Kopf gegangen, eine Frage Gottes aus dem 1. Buch Mose: Kain, wo ist dein Bruder Abel?
Was meinen wir? Wir leben in Europa, wir sind gefragt. Wir dulden das Schlepperunwesen nicht nur, sondern wir fördern es geradezu durch unsere europäische Politik. Und man mag das kaum noch sagen: auch der Umgang der EU mit den Flüchtlingen, die versuchen, etwa von Libyen aus über das Mittelmeer zu gelangen ist ja geprägt von den fast schon verzweifelt zu nennenden Versuchen, durch die Setzung von Rahmenbedingungen die Hilfe für Ertrinkende so schwer wie möglich zu machen. Kann diese Politik wirklich noch human genannt werden? Spricht sich in diesem Vorgehen nicht geradezu Menschenverachtung aus?
Liebe Gemeinde, wenn solche Überlegungen laut geäußert werden hören nicht nur viele Populisten weg oder empören sich über angebliches „Gutmenschentum“. Sicher kann noch so gut gemeintes Moralisieren eine verantwortliche Flüchtlingspolitik nicht ersetzen. Wer das meint liegt völlig falsch, und davon bin ich auch persönlich überzeugt. Aber es muss möglich sein, diese Zusammenhänge im Sinn einer Grundhaltung anzusprechen, die dann in politisches Handeln übersetzt werden bzw. einfließen muss. Das schließt natürlich das Ringen um gemeinsame Standpunkte und die Diskussion mit Andersdenkenden nicht aus, sondern ein! Und das verlangt natürlich auch ausdrücklich die Fähigkeit und die Bereitschaft zu Kompromissen von allen, die sich hier engagieren.
Mir ist das natürlich auch wichtig mit Blick auf die politische Lage heute. Pegida-Demonstrierende und zumindest Teile der AfD behaupten immer wieder, sie stünden für das sogenannte christliche Abendland ein. Wenn es das aber überhaupt in Reinform gibt, dann müssten seine Grundlagen Nächstenliebe und Barmherzigkeit sein, denn diese Tugenden sind Kennzeichen des christlichen Glaubens. Und sie bedeuten Eintreten für die Schwachen, Offenheit für Fremde, Barmherzigkeit mit Menschen in Not. Was jene Gruppierungen aber predigen, ist das Gegenteil: Abgrenzung, Fremdenhass, Rassismus. Die Tugenden der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit scheinen mir hochpolitisch und hochaktuell in unserer Zeit!
Hier komme ich noch einmal auf den Predigttext zu sprechen, wie ihn uns der Evangelist Lukas überliefert.
Der reiche Kornbauer, der da geschildert wird, arbeitet und ackert, dabei handelt er vorausschauend. Ein Landwirt also, wie er damals im Buche stand und heute im Buche steht, gewinnorientiert und in dem Sinn sicher auch verantwortungsbewusst. Er schafft Eigentum und vermehrt sein Vermögen. Aber er verliert am Ende seine Seele. Bei allem Wirtschaften und Schaffen müssen wir im Blick behalten, dass wir unsere Seele nicht verlieren, und damit nicht den Blick auf die Gemeinschaft, auf die Verantwortung vor Gott und den anderen Menschen, ja auch vor uns selbst in unserem Handeln. Wenn wir uns in den Segenskreislauf von Geben und Nehmen hineinbegeben, können wir sehen, dass alle Menschen eine Gabe haben, sich daran zu beteiligen. Niemand muss auf der Strecke oder am Rande bleiben, seien es wir selbst, seien es Geflüchtete oder Schutzsuchende oder die, die ihr Leben hier aus eigenen Kraft nicht mit Würde allein führen können. Davon bin ich überzeugt.
Wir alle können uns in diesen Segenskreislauf einbringen. Es müssen ja nicht immer die großen Weltverbesserungen sein, die wir erreichen können oder sollten. Auch kleine Schritte sind hilfreich und möglich. Lassen Sie uns darüber reden, welche Schritte das hier sein könnten, vor Ort und in der Gemeinde. Auch in diesen kleinen Schritten kann etwas aufscheinen von der zukünftigen Welt Gottes, wenn, ja wenn wir sie denn gehen. Gott traut uns das jedenfalls zu und gibt uns dafür die Richtung vor. Amen.