Hannover (epd). Im Juli 2006 hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihr Impulspapier «Kirche der Freiheit» veröffentlicht. Im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) zieht Mitautor Thies Gundlach selbstkritisch Bilanz. Der Vizepräsident des EKD-Kirchenamts in Hannover spricht über die Qualität kirchlicher Arbeit, die Missverständlichkeit von Zielvorgaben und die Bremswirkung voller Kassen auf Reformen.
epd: Kaum jemand spricht noch vom Reformprozess in der evangelischen Kirche. Was ist erreicht worden?
Gundlach: Unsere Kirche ist meines Erachtens insgesamt profilierter und selbstbewusster geworden, sie kann mit der Wettbewerbs- und Marktsituation besser umgehen und ist in vielen organisatorischen Fragen professioneller geworden. Die kritische Diskussion hat uns gut getan – Kritik ist die protestantische Form der Wahrnehmung. Wobei das Impulspapier oft wie ein Verstärker wirkte für Überlegungen und Prozesse, die an vielen Orten schon unterwegs waren.
epd: Welche Prozesse laufen noch?
Gundlach: Das Impulspapier hatte die Frage nach der Qualität kirchlicher Arbeit aufgeworfen; diese Frage ist naturgemäß nie abschließend zu beantworten, Qualität muss immer wieder neu überprüft werden. Auch die Frage nach der Vielfalt von Gemeindeformen und innovativen geistlichen Angeboten wird man nie abschließen wollen.
Andere Impulse – zum Beispiel das Gemeinsame von Kirche und Diakonie stärken oder die aktive Themenkommunikation – werden gegenwärtig nicht allein auf der EKD-Ebene, sondern auf allen kirchlichen Ebenen angestrebt. Ich sehe ehrlich gesagt keine wirklichen Alternativen zu den zentralen Orientierungspunkten des Impulspapiers, falls der Reformdruck wieder zunehmen sollte.
epd: Wo sehen Sie bleibenden Veränderungsbedarf?
Gundlach: Im Grunde sind die vier Kernanliegen des Impulspapiers – geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität; Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit; Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen und Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit – nach wie vor wichtige Kriterien für kirchliche Veränderungsprozesse. Der erste Punkt muss heute besonders betont werden, denn das einladende Zeugnis über die Wahrheit, Freiheit und Schönheit unseres Glaubens ist wohl die zentrale Herausforderung jenseits aller organisatorischen Professionalität, die man auch von der Kirche erwartet.
epd: Aus der Pfarrerschaft hatte es vor zehn Jahren massive Kritik gegeben angesichts der Forderungen nach höherer Qualität und größerer Leistungsbereitschaft. Würden Sie heute die Ziele einer Reform noch einmal so formulieren?
Gundlach: Zehn Jahre sind in unserer hochtemperierten Gesellschaft eine lange Zeit, weswegen das Gleiche noch einmal zu sagen nicht mehr das Gleiche ist. Außerdem ist die Leitung der Kirche durch Zielvorgaben mittlerweile nahezu selbstverständlich geworden. Allerdings habe ich auch noch keinen Weg gefunden, Ziele so zu formulieren, dass nicht auch mitschwingt: Wir wollen noch besser werden. Das empfindet mancher als Kritik.
epd: Vor allem strukturell hat es in den vergangenen Jahren kaum größere Veränderungen gegeben. So hat sich die Zahl von 23 Landeskirchen nicht halbiert, sondern ist auf 20 gesunken. Haben die konjunkturbedingt gut sprudelnden Kirchensteuereinnahmen den Reformdruck genommen?
Gundlach: Ja, das haben sie! Aber zugleich bin ich zutiefst dankbar für diesen Segen, lässt er uns doch nicht nur den Flüchtlingen in Not helfen, die Pensionsforderungen sichern und nötige Veränderungen in Ruhe umsetzen, sondern auch ein Jahrhundertjubiläum gestalten, das große missionarische und orientierende Kraft entfalten kann.
epd: Die EKD hatte sich «Wachsen gegen den Trend» zum Ziel gesetzt. In welchen Punkten ist das geschafft worden?
Gundlach: Viele profilierte Gemeindeangebote und originelle Gottesdienstformate wachsen gegen den Trend; die Bildungsangebote von den evangelischen Schulen bis zu den Glaubenskursen wachsen ebenso wie die Möglichkeiten, am Verkündigungsdienst unserer Kirche mitzuwirken. Das Engagement ehrenamtlicher Mitarbeit ist beeindruckend. Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gültig bleibt: Wir werden kleiner, ärmer und älter.
epd: In der Perspektivkommission der EKD saß damals nicht nur theologischer, sondern auch ökonomischer Sachverstand. Im Papier «Kirche der Freiheit» wurden daher wie in einem Unternehmen Zielgrößen beziffert – etwa wachsender Gottesdienstbesuch oder eine Taufquote. Lässt sich damit kirchliche Arbeit messen?
Gundlach: Gottes Geist weht, wann und wo er will! Glaube lässt sich nicht erzwingen und auch nicht überprüfen. Insofern sagt genau genommen auch ein guter Gottesdienstbesuch wenig über den rechten Glauben aus. Aber: Wenn wir wollen, dass viele Menschen unsere Angebote annehmen, dann muss man die Frage stellen, ob wir dies durch bessere Qualität, einen günstigen Zeitpunkt oder eine ausführliche Vorbereitung befördern können. Und wenn wir wollen, dass viele Kinder getauft werden, dann muss man die Frage stellen, ob wir möglicherweise durch feste Tauftermine am Sonntagmorgen diesem Ziel im Weg stehen. Natürlich gewinnt die Formel von der Taufquote keinen Schönheitspreis, aber sie war provozierend genug, um jene Fragen in den Raum zu stellen.
epd: In Ihrer Abteilung im EKD-Kirchenamt war ein Reformbüro installiert worden. Ihre Mitarbeitenden kümmern sich jetzt aber vor allem um die Vorbereitung des Reformationsjubiläums. Ist die weitere Umsetzung der Reformziele für die EKD kein Thema mehr?
Gundlach: Die Vorbereitung des Reformationsjubiläums ist über weite Strecken die Fortsetzung der Reformanliegen für die EKD-Ebene. Zum Beispiel ist die Verabredung gemeinsamer Themenjahre für die zehn Jahre währende Lutherdekade eine unmittelbare Umsetzung des Zieles, profilierte Themenagenda zu betreiben. Aber natürlich kann das EKD-Kirchenamt lediglich jene Impulse aus dem Reformpapier umsetzen, die auf der EKD-Ebene liegen; alles andere wäre übergriffig.
epd: Wie bereitet sich die EKD auf die Zeit nach den Feiern 2017 vor, angesichts drohender Einnahmeverluste in den folgenden Jahren? Steht dann das nächste Reformpapier an?
Gundlach: Die Beratungen über eine Strategie für die Jahre nach 2017 hat der Rat der EKD bereits aufgenommen, ohne dabei wie gebannt auf mögliche Einsparungen fixiert zu sein. Die Ergebnisse der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung sind dabei ebenso im Blick wie die Reflexion der bisherigen Veränderungsprozesse. Und natürlich die Herausforderungen einer zunehmend auch laizistisch argumentierenden Öffentlichkeit. Dass sich der Rat für diese Strategiebildung Zeit nimmt, zeigt wie wichtig ihm dieses Anliegen ist.
Source: Kirche-Oldenburg