Der folgende Vortrag von Militärbischof Dr. Rink: wurde am 29. Juni 2017 im Deutschen Marinemuseum gehalten.

Die Rolle der Militärseelsorge innerhalb der Demokratie

„Wir wollen den Seelsorger als kritischen Partner, einen Claqueur brauchen wir nicht!“

Dieses Zitat stammt von einem Admiral a. D., einem früheren Inspekteur der Bundesmarine. Ich bin beeindruckt von dieser Haltung eines hohen, große Verantwortung tragenden Offiziers. Und ich bin dankbar, dass Seelsorge in der Bundeswehr – zumindest an vielen entscheidenden Stellen – so wahrgenommen und gewünscht wird.

Historisch ist es ja anders gewesen, lange Zeit. Lange Zeit fungierten Feldprediger als Schmiermittel des militärischen Betriebs, als himmlisch beglaubigte Garanten der irdischen Hierarchie. Im 18. Jahrhundert wurde im Reglement für die preußische Infanterie Offizieren nahegelegt, einen „Kerl“, der nicht spure, zum Pfarrer zu schicken. Dort sollte er wieder auf die gehorsame Spur gesetzt werden. Auch noch in der Zeit der Wehrmacht wurde die kirchliche Seelsorge durch das eigentlich kirchenfeindliche Regime geduldet und bejaht, weil man in ihr ein maßgebliches Instrument zur Stabilisierung der Truppe sah, weil sie Soldaten deren Zweifel an Recht und Sinn des Krieges abnahm oder ausredete und die Truppe dadurch gefügig machte.

In der Bundeswehr sollte sich das ändern. Es war ein intensiver Denk- und Diskussionsprozess, teilweise auch ein erbittert geführter Streit, gerade innerhalb der protestantischen Kirche, der letztlich zu den bis heute geltenden Regelungen des Militärseelsorgevertrags führte. Im Februar 1957 wurde er unterzeichnet, ist jetzt also 60 Jahre alt.

Auch innerhalb der evangelischen Kirche ist ja über „Lehren“ aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Kirchenkampfs gestritten und um Lösungen gerungen worden. In Hessen-Nassau, wo Martin Niemöller Kirchenpräsident wurde, hat sich eine dezidiert bruderschaftliche – heute hieße es: geschwisterliche – Leitung etabliert, die jede Hierarchie von oben nach unten als dem evangelischen Verkündigungsauftrag widersprechend verworfen hat. Die EKHN tat sich – auch durch Niemöllers persönliche Einstellung und seinen Einfluss – bekanntermaßen schwer mit der Bewaffnung der Bundesrepublik und mit der Militärseelsorge. Der Militärseelsorgevertrag wurde in der EKHN erst 1961 ratifiziert. Für mich, der ich aus dieser Landeskirche komme und ihren Grundsätzen verbunden bin, ist es jetzt eine besondere Herausforderung, Militärbischof zu sein. „Bischof“ – das ist ein Amt, das im Horizont des reformatorischen Amts- und Dienstverständnisses genau und kritisch zu definieren ist, kennen wir doch nur eine Ordination und keine Hierarchie geistlicher Ämter. Und Bischof im Rahmen des Militärs zu sein, das verlangt noch einmal mehr nach theologischer Reflexion und nach Rechenschaft.

Aber ich bin überzeugt: Der Militärseelsorgevertrag, der – anders als Niemöller es wahrnahm – der Kirche in einem besonderen Handlungsfeld enorme Freiheit garantiert und ihr ermöglicht, Menschen nahe zu kommen, die im Auftrag der Demokratie einen schwierigen und elementar wichtigen Dienst erfüllen, ist eine gute Grundlage für echte evangelische Verkündigung. Ich werde das gleich näher ausführen.

Ein kleiner Nebenaspekt sei aber zuvor erwähnt: Seit etwa zehn Jahren residiert die Leitung der evangelischen Militärseelsorge in Berlin just in dem Gebäude, das einst der Sitz des „Reichsbischofs“ Ludwig Müller gewesen ist – der ja, die Ausstellung thematisiert es, seinerseits eine enge Verbindung zur Marineseelsorge gehabt hat. Er soll sein Dienstzimmer mit Seefahrtsutensilien geschmückt haben. Dieser historisch belastete Ort verpflichtet uns, die wir in der „Zentrale“ für die Seelsorge an den Soldaten Verantwortung tragen, noch zusätzlich zur nachdrücklichen Pflege der Resultate des Kirchenkampfs und zur Treue zu den Werten des Grundgesetzes.

In der Bundeswehr untersteht die Militärseelsorge in keiner Hinsicht der militärischen Hierarchie. Das ist nicht nur für die deutsche Geschichte ein Novum, sondern weltweit ein Unikat. In anderen Armeen tragen die Seelsorger Offiziersdienstgrade; somit sind sie – mehr oder minder strikt – in die Befehlskette integriert. Dass Seelsorge eine instrumentelle Funktion im Militärischen hat – und das hat ja auch in Deutschland Tradition –, wird damit augenfällig. Nicht so in der Bundeswehr: Die Seelsorger in der Bundeswehr sind beim Inhalt ihres Dienstes allein an Bekenntnis und Recht der sie entsendenden Landeskirche gebunden. Und, was nicht zu unterschätzen ist: Man ist grundsätzlich nur befristet Militärseelsorger, ist für einige Jahre von seiner Landeskirche beurlaubt und kehrt im Normalfall wieder in deren Dienst zurück. Das sorgt mit dafür, dass sich unter Militärgeistlichen kein militärkirchliches Sonderbewusstsein ausbreitet. Auch dies eine Konsequenz aus der Vergangenheit!

Genau das hat der Staat in der Gründungsphase der Bundeswehr so gewollt, als Lehre aus bösen Erfahrungen mit Kadavergehorsam und einer militärischen Hierarchie, die sich einem verbrecherischen Regime zur Verfügung gestellt hatte. Der Staat Bundesrepublik Deutschland hat in seiner Armee mehrere Schutzmechanismen gegen den Absturz ins Totalitäre eingebaut. Einer davon ist die Unabhängigkeit der Militärseelsorge. Der Staat will, dass mitten im militärischen Gefüge mit seiner unvermeidlichen Hierarchie jemand da ist, der unabhängig ist in Worten und Gedanken. Das ist – unser Staat hat das verstanden – unerlässlich, damit das Menschenbild, das die Bundeswehr verteidigen soll, auch im Innern der Armee gewahrt bleibt. Wer Freiheit und Menschenwürde schützen will, muss nämlich bei sich selbst Freiheit und Menschenwürde leben.

Militärpfarrer sind nicht Diener zweier Herren. Dass man eine staatliche Ernennungsurkunde als Beamter erhält, darf nicht täuschen. Die Freiheit der Predigt und die Diskretion der Seelsorge gelten wie für jeden zivilen Pfarrer. Ja, ich gehe so weit zu sagen, dass ein Militärgeistlicher seiner Beamtenpflicht erst genügt, wenn er innerhalb der Bundeswehr ganz selbstbewusst seiner kirchlichen Beauftragung nachkommt.

Denn so trägt er dazu bei, dass die freiheitliche Ordnung unseres Staates lebendig bleibt. Den Eid als Beamter leistet man schließlich auf das Grundgesetz mit seinen Freiheitsgarantien, nicht auf einen düsteren Korpsgeist. Militärseelsorge steht für ein Menschenbild jenseits militärischer Funktionalität, für ein Menschenbild im Sinne der Grundwerte einer demokratischen Verfassung. Die Präsenz der kirchlichen Arbeit innerhalb der Bundeswehr sorgt mit dafür, dass Menschen innerlich gestärkt und ermutigt Ihren Weg gehen, dass sie couragiert sind, um kritisch und loyal Verantwortung zu übernehmen. Militärgeistliche sind Partner, nicht Claqueure.

Im Zeichen des konfessionellen Schwundes, der die Bundeswehr mit erfasst, gilt es, „das Kirchliche“ als humanes Schutzmoment offensiv zu benennen. Der Status des Ordinierten gewährt Freiheit, und diese Freiheit strahlt aus auf die Menschen, die den Seelsorger aufsuchen. Alleinstellungsmerkmal des Militärpfarrers ist, nicht „Offizier und …“ sein zu müssen, sondern exklusiv kirchlicher Beauftragung zu unterstehen. Was militärische Befehlshaber befehlen, das darf und soll den Militärgeistlichen zwar interessieren, das darf aber niemals Richtschnur seiner Predigt und seiner Seelsorge sein. Er ist im Auftrag der Kirche da für die Menschen. Für Befehlende und Befehlsempfänger ohne Unterschied. Beide, die „oben“ und die „unten“, können oft genug jemanden gebrauchen, der unabhängig ist im Zuhören und im Antworten.

Die Bundeswehr wünscht sich in ihren Statuten und öffentlichen Verlautbarungen Soldaten, die aus Einsicht handeln. Soldatische Treue beweist sich in kritisch-konstruktivem Mitdenken. Naturgemäß liegt der „Ernstfall“ ethischer Bildung vor jedem Einsatz. Da müssen Urteilsvermögen und argumentativer Austausch trainiert werden, gerade mit Führungspersonal. Besonders im Lebenskundlichen Unterricht tragen Militärgeistliche zur ethischen Stärkung und Sensibilisierung bei.

Gerade in unserer Einsatzarmee halte ich das Konzept der Inneren Führung für „passend“ und aktuell. Und ich bin überzeugt, dass jeder zu einer gesunden Führungskultur beitragen kann: Indem er eigene Entscheidungen transparent darlegt und von Vorgesetzten Transparenz einfordert, Unterstellten in kritischen Situationen den Rücken stärkt, Probleme unbeschönigt nach „oben“ meldet, den (angenommenen) Opportunismus derer „da oben“ niemals als Alibi für eigenen Opportunismus benutzt. Mut ist ansteckend. Um ihn zu kultivieren, bedarf es freier Gesprächspartner.

Bei der Bundeswehr finden Pfarrer eine interessierte, aufgeschlossene Gemeinde. In der dichten Gemeinschaft an Bord kann das noch einmal intensiver erlebt werden. Man kommt weit herum in diesem Dienst. Und man hat die Chance, als Pfarrer Menschen zu begegnen, die die Räume ziviler Kirchengemeinden kaum je betreten.

Gerade im Bereich der Marine sind Menschen sehr viel unterwegs – auch sehr oft weg von zu Hause, mit allen Belastungen, die das einschließt, nicht zuletzt für die Familien der Soldaten und der Seelsorger. Obwohl die Personalstärke der Marine gerade einmal 9 Prozent der Gesamtpersonalstärke der Bundeswehr ausmacht, ist das Personal der Marine in allen Einsätzen der Bundeswehr mit knapp 17 Prozent vertreten.

Das spiegelt sich in den Zahlen der begleitenden Seelsorge: Im Jahr 2016 waren unsere Marinegeistlichen insgesamt 644 Tage auf See, das entspricht 1,8 Jahren!

Schwerpunkt der Arbeiter der Marinegeistlichen ist die seelsorgerliche Seefahrts- und Einsatzbegleitung. Das bedeutet für jeden Geistlichen eine Abwesenheit von ca. drei Monaten in jedem Jahr.

Von den Militärgeistlichen wird hohe Flexibilität verlangt wegen der sich ständig ändernden Einsatzlage. Die Seelsorge ist stark nachgefragt und hoch wertgeschätzt, trotz einer Kirchenzugehörigkeit von unter 50 Prozent bei den Marineangehörigen.

An Bord leben wir Ökumene. Generell wechseln sich katholische und evangelische Geistliche in der Begleitung ab.

Als Summe möchte ich festhalten: Die Militärseelsorge, gerade im Bereich Marine, kann als eine Art Zukunftslabor der Kirche gesehen werden. Wir sind heute schon mit einer post-volkskirchlichen Realität konfrontiert, die zumindest im Westen Deutschlands die zivilen Gemeinden erst in mehreren Jahren treffen wird. Dabei erleben unsere Geistlichen eine Offenheit und Aufnahmebereitschaft, die ermutigt, aber auch herausfordert, jenseits traditioneller Arbeitsweisen mit dem Evangelium Menschen nahe zu kommen, sie zu ermutigen, zu stärken, zu trösten und zu orientieren.

Zugleich ist die Ordnung des Militärseelsorgevertrags ein Pfund, mit dem Kirche wuchern kann und muss. Wir tragen dazu bei, dass unsere Streitkräfte in der inneren Verfassung ein lebendiges Glied der Demokratie bleiben. Wir fordern Uniform tragende Menschen heraus, im Innern kritische Individuen zu sein und damit der Gemeinschaft zu dienen. Auch das wird konfessionsunabhängig geschätzt. Wir sind willkommen als kritische Partner, nicht als Claqueure. Das gilt es im Alltag unseres Dienstes einzulösen.