Auch nach einem Jahr wird Angela Merkels Satz «Wir schaffen das» noch kontrovers diskutiert. Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kirche kommen zu unterschiedlichen Einschätzungen, während die Kanzlerin ihre Flüchtlingspolitik verteidigt.
Berlin/Braunschweig (epd). Ein Jahr nach dem Satz «Wir schaffen das» von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gehen die Meinungen darüber weiter auseinander. Merkel verteidigte ihre damalige Entscheidung, mehrere Tausend in Ungarn gestrandete Flüchtlinge ins Land zu lassen, als Akt humanitärer Verantwortung. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hält die Entscheidung vom vergangenen Herbst, die Grenze nicht zu schließen, für richtig. Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker forderte mehr Unterstützung für die Kommunen in der Flüchtlingshilfe. Der Bundesverband der Deutschen Industrie verlangte, Flüchtlinge schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
«Es ist vollkommen klar, dass sich ein solches Jahr wie das letzte nicht einfach wiederholen kann. Dass wir uns aber dieser humanitären Verantwortung gestellt haben und weiter stellen, war richtig», sagte Merkel in einem Interview der «Bild»-Zeitung (Samstagsausgabe). Die Kanzlerin betonte, dass Deutschland die Herausforderungen aufgrund seiner guten wirtschaftlichen Lage meistern könne. Zudem seien für niemanden wegen der Flüchtlingshilfe Leistungen gekürzt worden. «Für Neiddebatten gibt es also keinen Anlass», unterstrich Merkel.
Zugleich forderte die Regierungschefin die Flüchtlinge auf, die hierzulande geltenden Regeln einzuhalten. Sie müssten die Gesetze und das Grundgesetz akzeptieren. Außerdem müssten sie sich um Arbeit und Ausbildung bemühen. «Wenn uns die Integration der Flüchtlinge gelingt, nützt das beiden Seiten», betonte Merkel.
Auch Bundesinnenminister de Maizière verteidigte die Entscheidung, die Grenze nicht zu schließen: «Angesichts der großen Zahl der Zuwanderer hätte die Schließung zu Situationen an der Grenze geführt, die keiner wollte oder in der Öffentlichkeit akzeptiert hätte», sagte er der «Welt am Sonntag». Es sei «pure Illusion» zu glauben, dass eine Grenzschließung das Land vor einer hohen Zuwanderung bewahrt hätte.« Eine Situation wie im vergangenen Herbst und Winter dürfe sich aber nicht wiederholen.
Die Kölner Oberbürgermeisterin Reker sagte, sie glaube trotz der Vorfälle in der Silvesternacht und dem Attentat auf sie weiter an Merkels Satz »Wir schaffen das«. »Ich habe diesen Satz damals und auch heute noch als Aufforderung verstanden, zusammen – jeder nach seinen Kräften – der Welt ein freundliches Gesicht zu zeigen«, sagte die parteilose Kommunalpolitikerin im Deutschlandfunk. Allerdings müssten sich Bund und Länder finanziell stärker an den Kosten für die Flüchtlingshilfe beteiligen.
Auch der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki lobte die Haltung Merkels in der Flüchtlingspolitik. »Ich bin sehr dankbar für dieses starke Wort der Kanzlerin, die so mithalf, dass Tausende von bedrohten Flüchtlingen bei uns einen sicheren Aufenthaltsort fanden«, sagte der Kardinal am Sonntag in seinem »Wort des Bischofs« im Kölner Bistumssender Domradio. Merkel habe diesen Ausspruch gewählt, »obwohl sie wissen musste, welche Schwierigkeiten mit der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen auf Deutschland zukamen«.
Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Ulrich Grillo, äußerte sich dagegen kritisch und forderte neue Anstrengungen zur Integration von Asylbewerbern in den Arbeitsmarkt. »Insgesamt hätten wir uns etwas mehr Mut gewünscht«, sagte er den Zeitungen der Essener Funke Mediengruppe (Samstagsausgaben), zu denen auch die »Braunschweiger Zeitung« gehört. Er sprach sich dafür aus, das Beschäftigungsverbot in der Zeitarbeit vollständig auszusetzen. Es müsse gelingen, Flüchtlinge »besser und schneller in offizielle Beschäftigung zu bringen", sagte Grillo. Zugleich wies er Vorwürfe zurück, die Unternehmen engagierten sich zu wenig für die Integration der Flüchtlinge.
Source: Kirche-Oldenburg