Eigentlich ist es eine ganz normale Familie, doch plötzlich gerät das Gleichgewicht aus den Fugen, es gibt Streit, der Mann wird handgreiflich, die Frau fühlt sich bedroht und ruft die Polizei. Die steht auch schon bald vor der Tür, will der Frau helfen, weist den Mann mit scharfen Worten zurecht. Die Situation eskaliert und plötzlich werden der junge Polizist und seine Kollegin angegriffen und in übelster Form beleidigt. Sie kommen als Retter, wollen helfen und sind plötzlich selbst Opfer.
 
„Das ist heute leider kein Einzelfall mehr“, sagt  Jörn Kreikebaum, Leiter der Polizeiinspektion Wilhelmshaven-Friesland. Mittlerweile gehöre es fast zum Alltag, dass Mitarbeitende von Polizei und Rettungsdienst angegriffen, bespuckt und beleidigt würden. „Die Entwicklung ist fatal, wir dürfen das nicht einfach so laufen lassen“, meint Notfallseelsorger Frank Moritz, der Pastor in der Kirchengemeinde Bant ist. Beim Runden Tisch, an dem die Notfallseelsorger, Vertreter von Polizei, Feuerwehr, DLRG, THW, Rotem Kreuz und anderen Rettungsorganisationen zusammenkommen, um ihre Erfahrungen auszutauschen, war die zunehmende Gewalt gegenüber Einsatzkräften vor kurzem Thema. Am Ende stand der Entschluss fest: „Es wird dringend Zeit, die Entwicklung zu stoppen. Ein erster Schritt ist, dass wir mit dem Thema jetzt an die Öffentlichkeit gehen“, so Pastor Moritz, der mit Kreikebaum und Michael Weiser, Brandamtsrat der Berufsfeuerwehr in Wilhelmshaven, zum Pressegespräch eingeladen hatte.

Spucken, beißen, treten, pöbeln, das sei gegenüber der Polizei schon fast an der Tagesordnung. Doch auch den Rettungskräften gegenüber sei neuerdings mehr und mehr Gewaltbereitschaft zu verzeichnen, so Weiser. In 30 Jahren als Notfallseelsorger sei Gewalt gegen Vollzugsbeamte immer mal wieder ein Thema gewesen, berichtete Moritz. Derzeit aber erlebe er eine enorme Verschärfung der Situation. Dass aber auch Sanitäter und Feuerwehrleute angegriffen würden, sei neu. „Wer hingeht, um zu helfen, der muss damit rechnen, dass er da nicht heil rauskommt. Wenn es so weitergeht, wird es bald keine Menschen mehr geben, die sich für diese Aufgaben zur Verfügung stellen wollen“, befürchtet er. „Es kann nicht sein, dass die, die für Sicherheit sorgen wollen, nicht mehr sicher arbeiten können“, sagte Kreikebaum, der mittlerweile ein größeres Misstrauen und ein distanzierteres Verhalten seiner Kolleginnen und Kollegen beobachtet. 

Rund zwei Drittel der Gewalttätigkeiten passieren unter Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen, aber ein Drittel sei auch im Vollbesitz der geistigen Kräfte. Rund 90 Prozent der Täter seien männlich, allein in der Inspektion Wilhelmshaven-Friesland kommen derzeit im Jahr bis zu 100 Fälle zur Anzeige, in der gesamten Direktion Oldenburg bis zu 3.500. Die Dunkelziffer sei aber hoch. „Unsere  Leute sind gewohnt, einiges wegzustecken, bevor sie Anzeige erstatten.“

Wenn aber solche Fälle zur Anzeige kommen, sei es ein fatales Zeichen, wenn Richter das Verfahren einstellten, meint Kreikebaum. Immerhin habe sich die Gesetzeslage verändert, mit einer Geldstrafe komme niemand mehr davon, der Rettungskräfte oder die Polizei angreife. Es gehe immer um eine Straftat und um Freiheitsentzug.

Welche Gründe zu der Entwicklung geführt haben, darüber lässt sich nur spekulieren. Zunehmende Respektlosigkeit und Individualisierung könnten ein Faktor sein, meinen die drei. 

Wichtiger sei es jetzt, einzuschreiten und eine öffentliche Diskussion anzustoßen. Das Bewusstsein in der Bevölkerung müsse sich verändern, die Bürgerinnen und Bürger sensibilisiert werden. „Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion zu diesem Thema“, sagte Kreikebaum. Zudem gehe es auch um politischen Druck, so Moritz. Große Parteien müssten endlich das Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger wieder ernster nehmen. Jetzt, jenseits von Wahlen, sei die Zeit dazu.

Ein Beitrag von Annette Kellin.

Source: Kirche-Oldenburg