Göttingen (epd). Der Reformationstag am 31. Oktober bietet aus Sicht des Göttinger Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann einen Anlass, um über die religiöse und weltanschauliche Vielfalt der modernen Gesellschaft nachzudenken. «An diesem Tag erinnern wir uns daran, dass mit der Reformation im 16. Jahrhundert ein Differenzierungsprozess begann, in dem wir bis heute stehen», sagte Kaufmann dem Evangelischen Pressedienst (epd). Mit der evangelischen Kirche sei damals in Nord-, West- und Mitteleuropa erstmals eine zweite Religionsgemeinschaft neben die katholische Kirche oder an deren Stelle getreten. Seither sei die religiöse Landschaft insgesamt pluraler geworden.
Der Reformationstag wird in diesem Jahr in Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein erstmals als regulärer gesetzlicher Feiertag begangen. Das hatten die Parlamente der vier Länder in der ersten Jahreshälfte beschlossen. Der Reformationstag erinnert an die Veröffentlichung der 95 Thesen gegen Missstände in der mittelalterlichen Kirche durch Martin Luther (1483-1546). In Ostdeutschland außer Berlin ist er bereits seit 1990 ein arbeitsfreier Feiertag.
Als «antikatholischer Kampftag» wie in früheren Zeiten lasse sich der Reformationstag heute nicht mehr inszenieren, sagte der evangelische Theologieprofessor Kaufmann. Daran habe in der evangelischen Kirche allerdings auch niemand Interesse. «Das ist in erster Linie ein staatlicher Feiertag, der sich auf die Geschichte unseres Landes bezieht und zunächst nicht mit einer Bejahung der evangelischen Kirche verbunden ist», unterstrich Kaufmann. «Er überwältigt niemanden und ist zumutbar auch für Menschen anderer Religionen und Konfessionen und auch für religionslose Menschen.»
Die Kritik jüdischer Verbände am Reformationstag wegen der judenfeindlichen Äußerungen Luthers könne er nicht nachvollziehen, sagte Kaufmann. «Dazu sind klärende Worte gesprochen worden. Ich kenne niemanden in der evangelischen Kirche, der die späten judenfeindlichen Äußerungen Luthers auch nur von ferne gutheißen würde.» Kaufmann hatte selbst ein Werk zum Judenhass Luthers publiziert. «Man muss mir erstmal eine Religionsgemeinschaft zeigen, die eine ihrer Zentralfiguren in einer derartig kritischen Weise dekonstruiert, wie wir es im Blick auf Luthers Haltung zu den Juden getan haben.»
Der Reformationstag biete heute auch einen Anlass, in «differenzierter und respektvoller Weise» über das Trennende zwischen Christen und Juden zu sprechen, sagte der Theologe. Das könne ein «Gewinn für beide Seiten» sein. «Das wünsche ich mir auch im Verhältnis zu den Muslimen. Respekt und Verständnis für Glaubensauffassungen anderer, die nicht meine sind, bilden die Voraussetzung für wirklich gelebte Toleranz.»
Source: Kirche-Oldenburg