„Wort für Wort“
Eine Kunstaktion und –Ausstellung zum Reformationstag 2017
Christus- und Garnisonkirche Wilhelmshaven
- Oktober 2017
Prof. Dr. Reinhard Schulz
Laudatio
Der zum Protestantismus konvertierte jüdische Romanist und Politiker Viktor Klemperer (1881-1960) wurde mit seiner Abhandlung LTI – Notizbuch eines Philologen (Lingua Tertii Imperii: Sprache des dritten Reiches) und seine Tagebücher unter dem Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1933-1945) öffentlich bekannt. Wie auch bei George Orwells (1903-1950) weitaus bekannterem Dystopie-Roman 1984 werden heutige Leserinnen und Leser mit diesen Werken für das Thema „Sprachpolitik“ sensibilisiert – also dafür, wie das Denken, Handeln und Fühlen von Menschen durch Sprachregelungen gesteuert wird. So schreibt Klemperer in LTI: „Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse.“ Klemperer interessierte sich für den Zusammenhang von Sprache und Macht und damit für die Durchsetzung von Ideologien durch eine manipulative Sprachpolitik. Auch heute bleiben wir von solchen Ideologien nicht verschont, wie man sie gegenwärtig z. B. im Disziplinierungsvokabular des neoliberalen Kontrollregimes mit Begriffen wie „Selbststeuerung“, „Lebenslanges Lernen“, „Qualitätsmanagement“, „Bewertungsraster“ oder „Kompetenzentwicklung“ vorfinden kann.
Aber haben diese einleitenden sprachpolitischen Bemerkungen überhaupt irgendetwas mit der akribischen Aufschreibarbeit zu tun, der sich Tina Asche für ihre Kunstinstallation „Wort für Wort“ für das Reformationsjubiläum in einer sehr zeitaufwendigen Kleinarbeit unterzogen hat? Ich glaube: ja und nein. Ja, weil die hier ausgestellten Dokumente in einzigartiger Weise die selbstverständliche und unbewusste Dimension des von Klemperer angesprochen Zusammenspiels von Sprache und Gefühl verkörpern. Nein, weil den Menschen, die Tina Asche hier zu Wort kommen lässt, vordergründig kein ideologisches oder manipulatives Interesse unterstellt werden kann. Dennoch lohnt es sich, noch etwas genauer hinzuschauen, um dem sich uns hier heute großformatig darbietenden Mix aus sehr Persönlichem, Transzendentem und Jargonhaften besser auf die Spur kommen zu können. So ist den dokumentierten Wortfolgen an den meisten Stellen die Mitwirkung einer unausgesprochenen Produktionsstätte, nämlich des Kirchenraums, anzumerken. Doch wie arbeitet dieser unausgesprochene Raum in den einzelnen Sprachfragmenten mit: etwa als Fluchtpunkt, als Rückzugsgebiet, als Besinnungsraum, als Gedenkstätte, als Oase oder als Kummerkasten? Bei der Fahndung nach solchen Bezugnahmen fungiert das Unausgesprochene zunächst einmal als Ausgespartes, weil jede hier dokumentierte Wortfolge von einer vermutlich ortsabhängigen Entscheidung (hier: der Kirche) begleitet sein dürfte, um diesbezüglich das eine auszuleuchten, etwas anderes aber im Dunkeln zu belassen oder im Anschluss an Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832): „Jedes ausgesprochene Wort ruft seinen Gegensinn hervor.“ Und mit Martin Heidegger (1889-1976) ließe sich ergänzen, dass jedes Gesagte auf ein umso größeres Ungesagtes verweise. Ich spreche ausdrücklich von einer das Schreiben begleitenden Entscheidung und nicht von einer Vorentscheidung, weil wir alle die Erfahrung kennen (z.B. beim Briefeschreiben), dass uns beim Schreiben etwas einfällt, was wir uns gerade nicht vorgenommen haben. Die hier versammelten Wortfolgen erwecken genau diesen Eindruck.
Mit alledem sind aber die Worte noch nicht gefunden für dasjenige, was beansprucht, durch Worte gar nicht gefunden werden zu können. Diese unausdrückliche Dimension haben das von mir bei dieser Ausstellung für analytische Zwecke unterschiedene Persönliche, Transzendente und der Jargon gemeinsam, die alle in Gestalt verschiedener Beispiele in dieser Kunstaktion zu finden sind. Für das Persönliche gilt dies etwa für die Metapher „Schmetterlinge im Bauch“ oder die Hoffnung auf „Wiedergutmachung“, für das Transzendente gilt das für die vielgestaltige Anrufung Gottes: „Lieber Gott, Herrgott, Herr im Himmel, Gott im Himmel, Barmherziger Gott, Hallo Vater, Hallo Gott“ aber auch christliche Formeln wie „Kerze für einen toten Freund“, „Beten bringt Wunder“, „Gott, vergib mir“, „Stille hören können“ oder „Alles ist Liebe“, und schließlich kommt der Kirchenjargon mit „Wir sind urgöttlich“ und „Denn nur durch den Glauben wird die Seele rein“, der Militärjargon mit „Sie starben für uns“ und der New Age-Jargon mit „Alle eins – verbunden, einzigartig. Es lebe das neue Wassermann-Zeitalter!“ vor.
Diese unvollständige Aufzählung konfrontiert uns mit einer tief sitzenden Ambivalenz, die all unserem Sprechen zugrunde liegt oder um es mit Friedrich Nietzsche (1844-1900) zu sagen: „Jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske“. Denn im Hinblick auf das vielfältige zwischen den einzelnen Wörtern und Zeilen in Szene gesetzte Maskenspiel oszilliert der Sinn zwischen Gesagten und Ungesagten, Expliziten und Impliziten, Begriff und Metapher. Tina Asche hat für uns mit dieser Ausstellung dieses bisher unter Buchdeckeln verborgene Versteckspiel öffentlich gemacht und unter der Überschrift „Mörtel gegen das Vergessen“ erinnerte die Nordwest-Zeitung am vergangenen Freitag (27. Oktober) an einen anderen Künstler, nämlich Gunter Demnig, den Erfinder des Gedenkprojekts „Stolpersteine“ anlässlich von dessen 70igsten Geburtstag. Diese Parallele veranlasst mich nun, anstelle von Stolpersteinen hier heute bei „Wort für Wort“ von „Stolperwörtern“ zu sprechen, die uns zum gemeinsamen Nachdenken bzw. der Teilnahme am Versteck- und Suchspiel einladen sollen. Bei Wikipedia findet man z.Z. nur den Stolperwörter-Lesetest, aber das ist etwas völlig anderes.
Zu guter Letzt möchte ich nicht außer Acht lassen, dass wir heute der Reformation, d.h. des 31. Oktober 1517 vor 500 Jahren gedenken und exakt vor einem Jahr, am 31. Oktober 2016, wurde in der FAZ ein Beitrag des Göttinger Theologen Thomas Kaufmann unter der Überschrift Druckerpresse statt Hammer veröffentlicht. Im Stil dieser Ausstellung manifestiert sich meines Erachtens, dass Tina Asche von der Schreibschrift der Gästebücher und den Übersetzungen abweichend die Buchstaben der Druckerpresse mit hohem handwerklichem Aufwand nachgeahmt hat. Nicht zuletzt ist darin ein bedeutender Beitrag zum Reformationsjubiläum zu sehen, insofern Thomas Kaufmann in seinem Beitrag vor einem Jahr Martin Luther (1483-1546) als einen „printing native“ geadelt hat. Er schreibt:
„Der springende Punkt meiner auf den zweimaligen Druck der „95 Thesen“ hinauslaufenden Rekonstruktion der Vorgänge um den 31. Oktober 1517 besteht darin, Luther von seinen frühesten Anfängen als das zu begreifen, als was er tatsächlich bald erkennbar wurde und was seine Wirkmächtigkeit begründete: als einen virtuosen Publizisten, einen „printing native“, einen Propagandisten und Agitator, der die Möglichkeiten der relativ jungen Technik des Buchdrucks auf berechnende Weise im Sinne seines theologischen Anliegens zu nutzen wusste. […] Dank der Druckerpresse lief sich die inquisitorische Vernichtung einzelner Texte durch das Feuer tot, blieben disparateste Gedanken in der Welt – die komplexeste und bisher nachhaltigste Datenspeicherung der Menschheitsgeschichte! Sie wertzuschätzen und nicht für vage Verheißungen digitaler Fortschrittsapostel aufs Spiel zu setzen, könnte ein nicht unwichtiger Ertrag des Reformationsjubiläums sein.“
Tina Asche hat in der Christus- und Garnisonkirche mit „Wort für Wort“ der einzigartigen Verquickung von Reformation und Buchdruck mit den „disparatesten Gedanken“ für unsere Zeit ein künstlerisches Zeichen gesetzt. Ich wünsche diesem „eindrücklichen Projekt“ in den kommenden Wochen viele Besucherinnen und Besucher, anregende Gespräche und einen zeitkritischen Geist und der Künstlerin gute Erholung von dieser groß angelegten und Kraft raubenden Aktion.