Rysum/Kr. Aurich (epd). Der Brauch klingt skurril und doch hat er den Menschen im Mittelalter Mut gegeben. In der alten Rysumer Kirche haben die Gläubigen am Karfreitag nach Sonnenuntergang ihren lebensgroßen geschnitzten Jesus vom Kreuz genommen, seine dank Scharnieren beweglichen Arme an den Körper geklappt und ihn in einer Nische in der Südwand der Kirche zur symbolischen Beerdigung abgelegt. «Am Ostermorgen haben sie ihn wieder an das Kreuz gehängt», sagt der evangelisch-reformierte Pastor Holger Balder.
Das Ganze habe vermutlich unter großer Anteilnahe der Dorfbevölkerung stattgefunden, sagt Balder: «Das muss man sich so ähnlich vorstellen wie die heutigen Krippenspiele.» Für die Menschen im Mittelalter sei die Zeremonie ein Zeichen der Hoffnung gewesen. «Mit Jesu Tod am Karfreitag war für sie die Welt von Gott verlassen», erklärt der Pastor. «Erst als sie ihn Ostern am Kreuz wieder sehen konnten, konnten sie die Auferstehung als Triumph über den Tod feiern.»
Heute müssen die Besucher der schlichten Kirche in dem knapp 700-Seelen-Dorf schon genau hinsehen, um das «Heilige Grab» zu finden. Versteckt zwischen Kirchenbänken und dem Kanzelaufgang wirkt es wie eine schlichte Ablagefläche.
Rysum liegt auf einer erhöhten Warft direkt am Dollart, wo die Ems in die Nordsee fließt. Die Kirche steht auf dem höchsten Punkt im Zentrum des Runddorfes. «Nach dem Deichbau im 13. Jahrhundert wurden die Bauern hier reich und investierten viel Geld in die Kirche», sagt Balder. 1457 leisteten sie sich sogar eine Orgel, die bis heute in der Kirche steht. Sie zählt zu den ältesten bespielbaren Orgeln der Welt.
Seit 1521 wurde in Rysum nachweislich evangelisch gepredigt. Die Reformation war dort von Beginn an von den Vorstellungen der Reformatoren Calvin und Zwingli geprägt, erläutert der Theologe: «Daher wurde alles aus der Kirche entfernt, was von der Predigt ablenken könnte.» In der evangelisch-reformierten Kirche werde das Bilderverbot aus den Zehn Geboten sehr streng ausgelegt. Gemälde, Altäre und sogar Kreuze suche man daher in reformierten Kirchen vergebens. So verschwand auch in Rysum irgendwann das Kreuz mit dem abnehmbaren Jesus. Über seinen Verbleib ist nichts mehr bekannt.
Das «Heilige Grab» wurde erst bei umfangreichen Restaurierungsarbeiten im Jahr 2008 entdeckt. Bis dahin war es in Vergessenheit geraten. Den Arbeitern sei damals aufgefallen, dass sich hinter der dünnen Putzschicht moderne Füllsteine befanden, die sonst in der Kirche nicht verbaut wurden, berichtet Balder. Sinn und Zweck der daraufhin freigelegten Nische, die zudem an einem Kopfende noch eine schmale Vertiefung in der Wand hatte, blieben zunächst ein Rätsel.
Erst der Osnabrücker Archäologe Andreas Ahlers identifizierte die Nische als ein «Heiliges Grab» aus dem frühen 16. Jahrhundert. Auch eine passende Baugeschichte sei inzwischen gefunden. Pastor Balder zufolge lasse sich belegen, wie der Rysumer Ritter Victor Frese 1489 und 1491 zwei Pilgerreisen mit ostfriesischen Grafen in das Heilige Land unternommen und dabei in Jerusalem auch die Grabeskirche besucht habe. Sie steht über einer Höhle, in der Jesus nach seiner Kreuzigung bis zu seiner Auferstehung an Ostern in einer Nische gelegen haben soll.
«Vermutlich hat Frese die Idee mitgebracht und Handwerker beauftragt, das ‘Heilige Grab’ nach dem Jerusalemer Vorbild anzufertigen», spekuliert Balder. Es ist bis heute das einzige in Ostfriesland belegte «Heilige Grab» überhaupt. Für die kleine Vertiefung am Kopfende lieferte wiederum der Osnabrücker Archäologe Ahlers eine Erklärung: Möglicherweise hatten sich die damaligen Handwerker vermessen, so dass noch etwas Platz geschaffen werden musste für den Heiligenschein.
Jörg Nielsen/epd
Source: Kirche-Oldenburg