„Die Kirchen sind nicht die Gewerkschaften des Himmels”, sagte vor einiger Zeit der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, und fügte hinzu: „Es wäre für die Kirchen besser, sie würden sich stärker auf den Glauben konzentrieren und weniger Politik machen.” Und Wolfgang Schäuble sagte noch als Finanzminister mit Blick auf die Kritik der Evangelischen Kirche an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung: „Der Staat ist nicht für Barmherzigkeit zuständig, er muss nur die Grundlage dafür schaffen, dass der Einzelne barmherzig handeln kann“.
   
Die Aufforderung, dass die Kirche sich ums sogenannte Eigentliche kümmern, sich aber bitte nicht politisch oder zu gesellschaftlich aktuellen Fragen äußern solle, ist so alt wie die biblischen Texte selbst. Ungeachtet dessen gibt es in der Ev. Familien-Bildungsstätte in Wilhelmshaven seit mehr als fünf Jahren einen politischen Gesprächskreis. Jede Woche treffen sich rund 10 Frauen und Männer, um über aktuelle, tagespolitische aber auch grundlegende politische Themen zu sprechen und zu streiten. Dabei geht es um Kommunalpolitik ebenso wie um Landes- und Bundespolitik. Auch europäische und weltpolitische Fragen kommen nicht zu kurz. Zentrales Thema ist immer auch die politische Glaubwürdigkeit: Dabei klopfen die Teilnehmerinnen kritisch die handelnden Politiker drauf ab, ob die sich auch an das halten, was sie einst versprochen haben. Bei Bedarf werden zu einzelnen Themen auch schon mal Politikerinnen und Politiker aus der Region eingeladen.
   
Seit fast fünf Jahren moderiert Hans-Rainer Klanke den offenen Gesprächskreis. Der Diplom-Verwaltungswirt war viele Jahre Pressesprecher der Arbeitsagentur in Wilhelmshaven und jahrzehntelang Vorstandsmitglied bei der Diakonie Friesland-Wilhelmshaven. Noch heute engagiert er sich als Gemeindekirchenrat in Altengroden.
   
Die Themen des Gesprächskreises sind dabei so vielfältig wie die Politik selbst Die letzte OB-Wahl in Wilhelmshaven und die Diskussion um einzelne Kandidaten gehören ebenso dazu wie das Dauerthema „Klinikum“. Aber auch globale Themen wie die Politik des US-Präsidenten und seine Konsequenzen für den Welthandel, der Brexit („Oh Gott, ich kann es nicht mehr hören“) oder auch bundespolitische Themen wie die Personalpolitik der Parteien stehen auf dem Zettel.
   
Im Frühjahr 2019 hatte die Christus- und Garnisonkirche in Wilhelmshaven anlässlich der Oberbürgermeisterwahl nacheinander alle Kandidatinnen und Kandidaten zur Vorstellung in die Kirche eingeladen. Nach einer kurzen Andacht gab es 60 Minuten Fragen und Antworten. Für viele eine gelungene Reihe mit neuen Einblicken, andere sahen darin einen Tabubruch: So etwas gehört nicht in eine Kirche. Angeregt durch diese Aktion diskutierte Gemeindepastor Bernhard Busemann mit dem Gesprächskreis über das Thema „Kirche und Politik“.
   
Wie zu erwarten war, gab es kontroverse Positionen. „In der Kirche sollten politische Dinge nicht stattfinden, das Weltliche gehört ins Gemeindehaus“, diese Haltung war so oder ähnlich mehrfach zu hören: „Der gläubige Mensch geht in die Kirche, da hat Politik nicht zu suchen.“ „Überall, wo ein Altar steht, sollten solche Veranstaltungen nicht stattfinden.“ Dabei ging es dann doch vor allem um die Kirche als Veranstaltungsort. Grundsätzlich gab es viel Verständnis dafür, dass sich eine Kirchengemeinde auch politischer und anderer weltlicher Themen annimmt. Dabei zeigte sich, dass die Position „Kirche hat Kirche zu bleiben, mehr nicht“ in der Regel gerne von denen vertreten wird, die ohnehin nicht zur Kirche gehören.
   
„Ich bin immer beides: Christ und Bürger. Wenn ich in den Gottesdienst gehe, lege ich mein Bürgersein nicht ab, und wenn ich in die Stadthalle gehe, lege ich mein Christsein nicht ab. Mich hat interessiert, für welche Werte die OB-Kandidaten stehen. Deshalb war ich froh über die Reihe“. Die Teilnehmerin meinte, die Kirche habe hier eine wichtige Aufgabe übernommen, kein anderes Format hat die OB-Kandidaten so ausführlich präsentiert. Kritik wurde am Wirtschaftsverband geübt, der zu seiner Veranstaltung nur vier Kandidaten eingeladen hatte: „Diese Auswahl war willkürlich.“ Eine Teilnehmerin drückte es im weiteren Verlauf so aus: „Eine Religionsgemeinschaft lebt davon, dass Menschen sich dort treffen und austauschen. Ich möchte doch wissen, wo die Kirche steht bei wichtigen Entscheidungen.“ Pastor Busemann machte dabei klar, „Politik und Kirche lassen sich rund um die Garnisonkirche ganz schlecht trennen. Unser Kirchenraum ist immer auch ein politischer Raum.“ Ein Teilnehmer hob das Gespräch hervor: „Der Dialog in der Kirche ist so wichtig. Früher haben die Kirchen Waffen gesegnet, heute gehen sie mit uns Schritte auf dem Weg des Friedens.“ Mit Blick auf die politischen Reihen in der Christus-und Garnisonkirche betonte eine Frau in der Runde: „Die Kirche ist ein offenes Gebäude. Durch solche Veranstaltungen kommen auch Menschen in die Kirche, die sonst nicht kämen. Sie erleben Kirche hier ganz anders.“ Es wurde deutlich, Kirchengemeinden können und sollen ein Forum für Diskussion sein, sie müssen aber neutral bleiben: „Eine Wahlempfehlung wie in anderen Konfession schon geschehen, darf es in der Evangelischen Kirche nicht geben.“ Das ist Konsens.
   
Trotz oft kontroverser Diskussion und großer Richtungsunterschiede, die gegenseitige Wertschätzung gehört zu den Markenzeichen des politischen Gesprächskreises. Die Teilnehmer kommen aus sehr unterschiedlichen politischen Richtungen. „Es ist auch schon mal jemand weggeblieben mit der Begründung, ‚ihr lasst Euch ja doch nicht überzeugen‘“, berichtet Moderator Rainer Klanke, „aber das war die Ausnahme“. Auch Klanke selbst profitiert regelmäßig von den lebhaften Diskussionen: „Ich bekomme oft einen ganz anderen Blick auf ein Thema“. Seine Rolle sieht er als Impulsgeber und hat auch gleich ein Bild dafür: „Ich schmeiße einen Stein ins Wasser, und dann zieht das Kreise“. So pflanzen sich die Gedanken fort, und manchmal kommt einer der Impulse nach ein paar Wochen wieder zum Vorschein, wenn ihn ein anderes Mitglied aus der Gruppe wieder aufgreift.
   
Hier wie in anderen Aktivitäten im Themenfeld „Kirche und Politik“ zeigt sich: Christlicher Glaube ist viel explosiver, als es manchem lieb sein mag. Und letztendlich ist es so, dass auch wer nicht politisch handeln möchte, am Ende doch immer politisch handelt, indem er mit seinem Schweigen die herrschende Meinung unterstützt. Geschwiegen wird im politischen Gesprächskreis der Ev. Familien-Bildungsstätte jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil
   
Rüdiger Schaarschmidt

Source: Kirche-Oldenburg