Diese Stadt trägt seinen Namen. Und sein Konterfei erscheint, wohin man nur sieht: auf Stoff, auf Holz, mit Spruch, mit Rose. Selbst an der Likörflasche klebt er als Etikett, steht als Teddy oder Pappaufsteller in den Schaufenstervitrinen. „Was sieht Martin Luther, wenn er nach 500 Jahren Reformation auf sein kleines Wittenberg sieht?“, fragt Tim kritisch und macht eine bewusste Pause bevor er seine Frage selbst beantwortet: „Viele kleine Figürchen, Luther-Ikonen. Heiligenverehrung? Lasst uns nachdenken: ist das eine Kirche nach Luther oder ist es das, wofür er einmal Rom angeprangert hat?“ Tims Zuhörer halten einen Moment inne. Dann kommt der Applaus.

Es ist Samstagvormittag und Tag 2 der Schreibwerkstatt für angehende Pfarrer aus der Landeskirche Oldenburg. In einem Halbkreis sitzen die Theologiestudenten Tim, Johannes, Lisa, Nadja, Julius und Vikar Christoph in der „denkbar“ – dem Laden, den ihre Landeskirche gemeinsam mit der bremischen und der reformierten Kirche vor bald einem Jahr in Lutherstadt Wittenberg eröffnet hat. Hier lesen sich die Jungtheologen einer nach dem anderen vor, was sie in der vergangenen Viertelstunde zu Papier gebracht haben: Gedichte, Kurzgeschichten, Gefühlsumschreibungen. Sie sind die Ergebnisse eines Spaziergangs für das Gehirn – oder im Fachjargon: einer homiletisch-liturgischen Exkursion.

Nico Szameitat, von der oldenburgischen Kirche für das 500. Reformationsjubiläum beauftragt, hat seine zukünftigen Kollegen zuvor auf diesen Weg geführt. „So eine Exkursion weitet den Blick, schafft kreative Zugänge und macht offener für Assoziationen“, erklärt Szameitat. An der Uni hätten die Theologiestudenten noch nicht gelernt, wie man Predigten schreibt. Dort beschäftigten sie sich zunächst viel mit fertigen, theologischen Texten. „Und wenn man dann in die Praxis kommt, sitzt man auf einmal da und soll Andachten oder Predigten verfassen, die nicht nur theologisch richtig, sondern nah an den Menschen sind, sie erreichen, in ihnen nachwirken.“, sagt der Pfarrer. Kreative Übungen seien für diese Schreibprozesse eine Stütze.

An zehn Stationen hat die Gruppe auf der Gedankenreise Halt gemacht und sich zu jeder von ihnen Assoziationen notiert. Da waren kräftige Choräle zu hören und Orgelspiele, die wie Filmmusik anmuten. Da galt es Zitate von Luther und Dietrich Bonhoeffer zu lesen, den Ausschnitt eines David Bowie-Konzertes anzusehen und ein paar Zeilen in griechischer Schrift abzuschreiben. „Bei einigen Stationen sind die Stichworte richtig aus mir herausgesprudelt“, sagt Nadja. Vor allem eines der Lieder habe sie berührt. „Geheimnisvolle Natur“ und „Weite“ stehen dazu auf ihrem Zettel. „Ich habe eine innere Ruhe bekommen und war ganz bei mir selbst“, beschreibt Nadja ihre Eindrücke. Später formuliert sie es in ihrem Text so: „Ich hatte den Dschungel aus wilden Gedanken hinter mir gelassen und verspürte nur noch Frieden.“ Warum sie in die Schreibwerkstatt gekommen ist? Weil sie lernen will, wie aus Gedanken Worte auf Papier werden, sagt Nadja. Und weil sie Mut und Selbstsicherheit finden will, ihr Geschriebenes auch anderen Menschen vorzustellen. Als Pfarrerin wird das eines Tages zu ihrem Berufsalltag gehören.

Vikar Christoph ist bereits in seiner ersten Gemeinde in Oldenburg-Eversten im Einsatz. „Predigten können sehr zäh werden, wenn man zu analytisch an sie rangeht“, sagt er. „Für meine konkrete Arbeit hilft mir dieses Schreibseminar, um frischen Wind in den Kopf zu bekommen und mich für alle Sinne zu öffnen.“

Wie man eine Predigt aufbaut und gut rüberbringt, damit beschäftigt sich auch Pfarrer Szameitat laufend. Eben hat er erst die Weiterbildung zum Predigtcoach abgeschlossen und freut sich, seine Erfahrungen mit Bibeltexten und verschiedenen Herangehensweisen mit den jungen Theologen zu teilen. Die Idee für die Schreibwerkstatt stammt allerdings nicht von ihm. „Dieser Workshop ist ein Fördergeschenk der Johanniter-Subkommende Oldenburg an die Studierenden“, erzählt Szameitat. Der christliche Verein ermögliche dem Nachwuchs damit, sich am Ausgangsort der Reformation mit dem für sie so bedeutsamen Wort auseinanderzusetzen. An den drei Tagen der Werkstatt sind die Teilnehmer auch im zentralen Johanniterhaus in Wittenberg untergebracht und werden kulturell sowie kulinarisch versorgt. Eine „Mischung aus intensivem Denken, kreativem Schreiben und einer besonderen Stadt“, nennt es Szameitat.

Wittenberg und die Wirkungsstätten Luthers sollen den Nachwuchs inspirieren: der Ort, von dem aus vor 500 Jahren eine umwälzende Bewegung ausgegangen ist und an dem heute eine so geringe Kirchlichkeit herrscht wie nur in wenigen anderen Regionen Deutschlands, sagt Szameitat. Darum schickt er die Gruppe an diesem Wochenende immer wieder hinaus zum Beobachten und Entdecken. Spannend sind für die angehenden Pfarrer aber besonders die Spuren der anderen Reformatoren wie Melanchthon oder Bugenhagen, erzählen sie. Den Hype um Luther sehen sie sehr skeptisch und sind sich einig: „Er allein hätte das mit der Reformation nie durchziehen können.“

Ein Beitrag von Christina Özlem Geisler
Source: Kirche-Oldenburg