Räumen Sie regelmäßig auf, liebe Leserin und lieber Leser? Also nicht nur etwas beiseiteschieben oder wegräumen, sondern sich von Dingen wirklich trennen? Ich versuche das regelmäßig am Jahresanfang, und so habe ich mich in den letzten ein, zwei Wochen durchaus schweren Herzens von diversen Büchern und CDs getrennt, die seit Jahren ungelesen in Regalen standen oder ungehört im Auszug lagen. Dabei wird mir beim Aufräumen immer wieder auch deutlich, wie viele Bücher, CDs oder auch Schallplatten mich schon seit meiner Jugend begleiten. 
   
In diesem Jahr habe ich also beim Aufräumen den Liedermacher Franz Josef Degenhardt wiederentdeckt: Der frühe Degenhardt, eine 4LP-Kassette (falls die Jüngeren damit nichts anfangen können: vier Langspielplatten aus Vinyl in einem Schuber), die ich mir im November 1979 gekauft habe. Ich habe ein bisschen in die Platten reingehört, viel Bekanntes identifiziert, aber auch alte Stücke neu entdeckt. Degenhardt war kommunistisch geprägter Jurist und Liedermacher, der die Geschichte der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik scharfzüngig und provokant begleitete. Dem christlichen Glauben konnte er nicht wirklich was abgewinnen, wen wundert’s bei dieser politischen Prägung. Und doch beobachtete er die Kirchen und machte sich seinen Reim auf sie. In seiner Ballade Tante Th’rese besingt er die christliche Option für die Randständigen, die Underdogs und die Unterdrückten. Die geistesschwache Tante Th’rese verrichtet niedrige Arbeiten in der Küche und tröstet die Kinder ihrer Schwestern, sie, die nie einen Mann oder eigene Kinder haben wird. Aber einmal im Jahr nimmt sie in grotesker Aufmachung am katholischen Fronleichnamsfest teil: 
   
War das ehrlich oder Rache,
wenn du die Gardine nahmst,
sie um Kopf und Schultern legtest,
so zur Prozession rauskamst?
Ob man dich auch schlug und einschloss,
spätestens an der Station
in Doktor Stratmanns Blumengarten
knietest du, wenn wir kamen, schon.
Sangst voll Inbrunst Litaneien
oder auch ein Weihnachtslied.
Alle lachten. Doch der Pfarrer
kam zu dir und sang laut mit.

   
Im Leben steht Tante Th’rese ganz unten auf der Leiter und ist die Letzte. Kirche und Glauben nehmen sie hingegen vollkommen anders wahr und werten sie nicht ab sondern auf. Der Pfarrer stellt sich an die Seite der geistesschwachen Tante Th’rese. Für ihn ist sie ein gleichwertiger Mensch. Gottes Gnade gilt allen Menschen, ausnahmslos.
   
Diese christliche Option für die Unterdrückten, diese Geschwisterlichkeit des Christentums mit den Leidenden in der Welt ist heute mehr denn je gefährdet, denn das christliche Zeitalter ist vorbei. Stattdessen sind alte Götter und Idole zurückgekehrt. Die Wellness-Industrie propagiert den makellosen, schlanken und vor Kraft strotzenden Körper. Deren Tempel und Studios füllen sich unablässig, während die Kirchen sich mehr und mehr leeren. Unbedingter Wille zum Erfolg ist angesagt, doch verwandelt er sich leicht in den Zwang zum Erfolg. Er wird dabei mehr und mehr begleitet von existenzieller Angst vor Scheitern und Niederlagen. Und wer stellt sich noch dem Leid, das sich einer schweren Krankheit spiegelt oder in den unmenschlichen Zuständen für Geflüchtete an den Außengrenzen Europas?
   
Das Christentum hingegen nötigt uns, Leiden und Scheitern als Teil unserer Wirklichkeit nicht nur in den Blick zu nehmen, sondern zu akzeptieren und dagegen anzugehen, indem die Glaubenden für humanitäre Verhältnisse eintreten. Es fällt heute schwer, sich mit Tante Th’rese zu identifizieren oder mit einem namenlosen, im Mittelmeer ertrunken Flüchtling. Der Wochenspruch hingegen erinnert uns daran, dass Gottes Gnade allen Menschen gilt. So motiviert er zum Widerspruch gegen neue alte Götter und Idole. Doch wie könnten wir überzeugender für unseren Glauben eintreten als uns für die Würde der Menschen zu engagieren, die ganz unten stehen oder am Rand der Gesellschaft? Noch einmal: Gottes Gnade gilt auch ihnen. Amen.
   
Pastor Olaf Grobleben
 

Kirche-Oldenburg
Eine Erinnerung