KIRCHE Zum 100. Mal trafen sich Christen in Wilhelmshaven zum „Passionspunkt“ – Viele Nachahmer

 

Die erste Andacht fand am 8. April 2001 am St.-Willehad-Hospital statt. Seither wurde an 67 verschiedenen Orten in und um die Südstadt gebetet.

 

VON URSULA GROSSE BOCKHORN aus der Wilhelmshavener Zeitung vom 02.04.2015, Seite 8

 

 

WILHELMSHAVEN – Das gibt es im Stadttheater nicht alle Tage: die Bühne ist rappelvoll mit Menschen. Aber es gibt kein Bühnenbild. Vier Mikrofone stehen herum, drei Boxen, auf denen Plastikbecher wie verloren wirken, denen später das A-cappella-Trio CUPapella eindrucksvolle Töne entlockt. Und dann eine Stimme, die alle im Raum kennen. „Frank, hörst du die Glocken?“ fragt Pastor Bernhard Busemann. Nein, Glocken sind nicht zu hören, obwohl es gerade 18 Uhr ist und die Glocken der Christus- und Garnisonkirche mit Sicherheit gerade läuten – in der Woche vor Ostern jeden Abend zu Beginn des „Passionspunktes“.

Dass er in einem schalldichten Raum stattfindet, ist nicht das einzig Besondere an diesem Abend. Zum 100. Mal hat die Gemeinde der Christus- und Garnisonkirche zu ihrer eigenen Form der Passionsandacht eingeladen. Viel ist passiert seit dem 8. April 2001, als sich eine deutlich kleinere Schar von Gläubigen am Eingang des St.-Willehad- Hospitals einfand, um gemeinsam zu beten, zu singen und zu hören: Wissenswertes über den jeweiligen Treffpunkt, den „wunden Punkt“, ein Stück aus der Leidensgeschichte Jesu, die Auslegung mit Blick auf die Gegenwart und ganz spezielle Musik.

67 verschiedene Orte wurden an den 100 Abenden in 15 Jahren aufgesucht, rekapitulieren die Pastoren Bernhard Busemann und Frank Morgenstern, während sie das Holzkreuz durch die Menge tragen. Das darf bei keiner der Andachten fehlen.

Einige Gebäude sind inzwischen abgerissen, andere „wunde Punkte“ zu neuem Leben erwacht, wie das Eckhaus Weserstraße/Deichstraße, die alte Helene-Lange- Schule, heute Grundschule Rheinstraße, das alte Waschhaus an der Jadeallee, heute ein schickes Restaurant. Um die Zukunft der „Passionspunkte“ ist den Pastoren nicht bange. „Wir haben noch 99 bis 102 Ideen“, sagt Frank Morgenstern. Und beide Pastoren freuen sich, dass die Andachtsform mittlerweile von Sande bis Berlin Nachahmer gefunden hat.

Manchmal war es ziemlich eng, nicht nur auf der Fregatte „Schleswig-Holstein“. Einige der früheren Orte wären für die mit den Jahren immer größer gewordene Passionspunkt-Gemeinde heute nicht mehr tauglich. Am Sonntag, dem Auftakt der diesjährigen Andachtsreihe, kamen 190 Teilnehmer in den Wasserturm am Kurpark, jetzt im Theater wurden 174 beim Hereingehen gezählt. Es habe sich im Lauf der Zeit eine eigene Passionspunkte-Gemeinde entwickelt, so Bernhard Busemann. Neben vielen treuen Gemeindemitgliedern der Christus- und Garnisonkirche sitzen und stehen Menschen, die nur zu den Andachten kommen, manche jeden Abend, die anderen gelegentlich, wenn sie Zeit haben.

70 verschiedene Fachleute haben an den 100 Abenden ins jeweilige Thema eingeführt. Am häufigsten dabei waren Dr. Jens Graul als Experte für Stadtgeschichtliches, Kunsthallenleiterin Dr. Viola Weigel und Dr. Stephan Huck, der Leiter des Deutschen Marinemuseums. Fachmann an diesem Abend ist Olaf Strieb, der Intendant der Landesbühne, der den Wert der Kultur hervorhebt, ohne die die Stadt an Strahlkraft verlöre – und auch an Wirtschaftskraft.

Den Bezug zwischen Theater und Kirche stellt der Heppenser Pastor Nico Szameitat her. Beide, Theater und Kirche, hätten ein Wächteramt.

Beide müssten heraus aus ihren Schutzräumen, aus den Probenräumen die einen, aus den Kirchen die anderen, und zu den Menschen gehen, ihnen den Spiegel vorhalten, um sie zu bewegen. Wie bei den Passionspunkten. Im Lesungstext, den Juliane Kallusky und Insa Röben vortragen, geht es um die Aufforderung Jesu an die Jünger, im Garten Gethsemane mit ihm zu wachen. Die Aufforderung „Wachet und betet“ gehe auch an die heutigen Christen. Im Lauf von 100 Passionspunkten seien wohl manche Straßenzüge „durchbetet“ worden. Das habe Menschen verändert, die heute wachsamer durch die Stadt gingen. Es habe aber auch die Stadt verändert.