Später Nachmittag. Jetzt endlich raus! Den ganzen Tag, wie seit Wochen alle Tage, in der Wohnung. Aber bei allen Einschränkungen: Das Spazieren in der Natur war (Gott-sei-Dank!) immer möglich. Es ist fast ein Automatismus geworden: Aufstehen vom Schreibtisch, Jacke an, feste Schuhe, ein paar Kilometer vor die Tore der Stadt in meinen Lieblingswald. Und dann: Raus ins Grün, ins manchmal so unentschlossene Frühlingswetter.
Jeden Tag, seit Beginn der Covid-19-Einschränkungen Mitte März. Und jeden Tag die gleichen Wege. Langeweile? Nicht ein einziges Mal. Ich gebe freimütig zu: Noch nie habe ich auch nur einen einzigen Frühling so intensiv erlebt, wie diesen fremden Corona-Frühling.
Noch nie habe ich mir durch tägliche Gänge die immer gleichen Wege vertraut gemacht. Und statt Langeweile Staunen: Ich sehe immer mehr. Jeder Baum, jedes Gebüsch und jedes Blümchen am Wegrand wird Teil dieser Geschichte. Meiner Geschichte. Wie gute alte Bekannte. Und stecken so derart voller Leben, Lust und Farbe, dass einem aufmerksamen Hinseher fast schwindelig werden kann.
Ich lernte, dass die Zeile von den „ausschlagenden“ Bäume im Frühling (wie Emanuel Geibel 1841 dichtete) gar keine spätromantische Übertreibung ist: Wie ihr Geäst täglich wächst, wuchert, bis sich Ende März die ersten Blätter vorsichtig hervor schieben, noch zusammengerollt. Kaum sichtbar. Aber wie es dann, als hätten sie’s verabredet, binnen Tagesfrist urplötzlich grün aus ihnen hervorbricht: grell, hell, blendend in der zaghaften Aprilsonne. Wie da ungestüm pure Lebenslust in protziger Prachtfülle regelrecht „zur Schau“ gestellt wird. Und all das gänzlich unbeeindruckt von unseren Einschränkungen, unseren berechtigten Ängsten und Sorgen in einem fremden Frühling.
Oder haben Sie schon Bekanntschaft mit dem kleinen Farbwunder Gamander-Ehrenpreis (Foto) gemacht? Ich nicht. Ich brauchte dazu diesen Corona-Frühling. Wohl sechs, vielleicht sieben Millimeter misst die Blüte dieses ebenso widerständigen wie fragilen kleinen Kerls. Seine Blüte leuchtet kunstvoll geformt ein intensives Blau in die Frühlingswelt. Und dann hockte ich nicht selten irgendwo am Waldweg und fragte mich: „Wer nur hat sich das alles ausgedacht?“
Das wird Sie vielleicht wundern. Denn so jemand wie ich sollte doch wenigstens diese eine Antwort immer parat haben. Ich hab´ sie nicht parat. Ich muss sie immer wieder neu erfragen. Und dann buchstabieren. Ich brauche meine Zweifel zum Glauben.
Der Herr schaut vom Himmel auf die Menschenkinder,
dass er sehe, ob jemand klug sei und nach Gott frage. (Psalm 14,2)
Ob wir klug sind? Ich denke, wir geben uns große Mühe. Und in den vergangenen Wochen haben wir das noch einmal ganz besonders getan: Kirche sein, leben und leiten unter ganz neuen, ungewohnten Bedingungen. Da haben viele von uns sich noch mehr als sonst gemüht, engagiert und jede Menge improvisiert. Wir haben Kirche bleiben können ohne die gewohnte Form der Sonntagsgottesdienste, ohne die gewohnte Form der vielfältigen persönlichen Begegnungen.
Denn wir haben neue Wege zu den Menschen gefunden. Wege, die wir noch vor wenigen Wochen für undenkbar gehalten hätten. Wir sind erfrischend kreativ und erfinderisch geworden. Und oft wurde dabei nach Gott gefragt. Wir haben unzählige neue, auch digitale Formate für die Verkündigung entdeckt und: Sie wurden von neugierigen und mutigen Menschen in unseren Kirchengemeinden auf vielfältige Weise zum Leben erweckt. Fehlerfreundlicher ging es zu. Es war ja nicht Zeit für Konzepte. Es war Zeit zu machen.
Wir konnten sogar Probleme lösen, die vor Corona-Zeiten als unlösbar galten. Und mussten (und müssen weiterhin) immer wieder neu verantwortlich reagieren auf die weiterhin unberechenbare Dynamik des Virusgeschehens. Chapeau!
„Relevanz-Verlust“? Ich sehe ihn nicht. „Scheitern der Kirche(n) in der Krise“? Nicht „systemrelevant“? Sicher, es gab auch schmerzhafte Ausfälle unserer bisherigen Dienste. Aber in der Summe kann zu solch negativem Schluss nur kommen, wer nicht aufmerksam hingesehen hat. Wer sich nicht sprichwörtlich gebückt hat, um auch die ganz kleinen Aufbrüche zu bestaunen. Diese mutigen, ersten und nicht selten zögerlichen Schritte auf ganz neuen Wegen. An so vielen Orten!
Und damit bin ich wieder beim widerständen und fragilen Gamander-Ehrenpreis (Foto): Geradezu frühlingshaft ist auch im kirchlichen Tun neues Leben hervorgebrochen. Widerständig in der Krise. Fragiles Fragen nach Gott. Kleine, stolze und ganz erstaunliche Pflänzchen eines neuen… ja: Kirchenfrühlings. Geboren aus der Not. Aber getragen von der Frage nach unserem Gott in diesen fremden Zeiten.
Und genau dieser Aufbruch, sein Mut und all die Mühen in Kirchengemeinden und Kirchenkreisen haben sicher nicht verdient, klanglos zu verblühen unter dieser Tage so lautem Ruf: „Rückkehr zur Normalität!“ Vielleicht rüttelt der Satz von Erika Freeman (92jähriges Kriegskind; Psychoanalytikerin in New York) im aktuellen Zeitmagazin uns auf: „Das Schlechte ist schlecht genug, da kann man sich auch auf das Gute konzentrieren.“
Davon gab es in den hinter uns liegenden Wochen eine ganze Menge. Kümmern wir uns also darum: Prüfen wir alles und behalten das Gute (1. Thess. 5,21). Investieren wir z.B. in vielfältigere Verkündigungsformen mit Potential. Kultivieren wir die Möglichkeiten — wie der Frühling. Er ist ja das Spiel mit dem Potentiellen. Mit dem, was noch möglich ist. Frühling weist über sich hinaus und zeigt uns, was noch werden kann. Und soll. Daher: Jetzt bitte auch klug bleiben. Wer weiß? Vielleicht kann aus diesem Kirchenfrühling sogar einmal ein Kirchensommer werden…?
Was mich angeht: Ich werde meine regelmäßigen Gänge ins Grüne auch künftig beibehalten. Und freue mich insgeheim schon auf das, was mich dort draußen im Sommer berühren und immer wieder erstaunt nach Gott fragen lassen wird.
Es ist Spätnachmittag: Jetzt endlich raus! Aufstehen vom Schreibtisch, Jacke an, feste Schuhe, ein paar Kilometer vor die Tore der Stadt in meinen Lieblingswald. Mal sehen, was mich heute staunen lässt.
Pfarrer Hartmut Lübben, Nachwuchsförderung
Source: Kirche-Oldenburg