Im Nachkriegsdeutschland konnte sich kaum jemand mehr vorstellen als eine satt-und-sauber-Versorgung für behinderte Kinder. Inklusions-Experten wie der Bremer Wilhelm Haase-Bruns wollten das nicht hinnehmen und starteten eine Revolution.

Bremen (epd). Melek hat sie alle herausgefordert. Als das schwerst-mehrfachbehinderte dreijährige Mädchen Ende der 1980er in eine Bremer Kindertagesstätte kommen sollte, fragten sich die Pädagogen: Wie soll das gehen? «Wir saßen im Team zunächst ratlos zusammen», erinnert sich Wilhelm-Haase-Bruns, heute Referent für Inklusion der evangelischen Kindertageseinrichtungen in der Hansestadt. «Aber wir waren überzeugt: Geht nicht gilt nicht», erinnert sich der Mann, der dazu beitrug, dass Bremen als erstes Bundesland Sondereinrichtungen für behinderte Vorschulkinder schloss.
Nun geht er in den Ruhestand.

1982 betrat die Bremische Evangelische Kirche mit dieser Arbeit bundesweit Neuland. «Wir wollten Kindertagesstätten für alle», erinnert sich der Erziehungswissenschaftler Georg Feuser, der das Projekt über Jahre wissenschaftlich begleitet hat. «Schließlich sind alle Menschen empfindungsfähige, verletzbare Individuen.» Behinderte Kinder sollten dort gefördert werden, wo sie wohnten. Eine Revolution – und bis heute Vorbild für Länder, die ihre Kindertagesstätten reformieren wollen. So sind Pädagogen beispielsweise aus China und Finnland nach Bremen gepilgert, um von Haase-Bruns und seinem Team zu lernen.

Zugegeben, die Herausforderung war groß. «Wir lasen Meleks Krankengeschichte, und was dort beschrieben wurde, wirkte ziemlich beängstigend», denkt Haase-Bruns zurück, der sich nun 62-jährig in die passive Phase seiner Altersteilzeit verabschiedet.
Sauerstoffmangel unter der Geburt hatte das Hirn geschädigt. Melek
(türkisch: «Engel») war querschnittsgelähmt, sprach nicht, war wahrscheinlich blind und möglicherweise taub. Ihr Stammhirn war beeinträchtigt, was bedeutete, dass die Steuerung der Körpertemperatur nicht richtig funktionierte. Die Ärzte waren überzeugt, dass sie bald sterben würde.

Sie galt als «reiner Pflegefall», nicht einmal die elementarsten Dinge könne sie selber tun, hieß es. Wie würden andere Kinder auf sie reagieren, wie könnte es dennoch gelingen, Melek in der Kita gut zu fördern? Das waren die Fragen, die dem damaligen Stützpädagogen Haase-Bruns durch den Kopf gingen. «Und dennoch waren wir überzeugt, dass Melek Entwicklungspotenziale mitbrachte», sagt er. «Es lag an uns, Wege auszuloten und Melek auf ihrem Entwicklungsweg zu unterstützen.»

Wer, wenn nicht wir – mit dieser Einstellung machte sich das Team an die Aufgabe und bekam schnell heraus, dass sie gar nicht so hilflos waren, wie zunächst befürchtet. Die Stützpädagogen und auch die anderen Kinder entdeckten, dass man sich über Berührungen mit Melek «unterhalten» konnte. Einfache Situationen wurden mit festen Signalen verknüpft. Melek begann, sich auf Ereignisse zu freuen, die durch bestimmte Signale angekündigt wurden.

«Damals erkannten wir: Gemeinsamkeit macht stark, Unterschiedlichkeit macht schlau», betont Haase-Bruns. Vielleicht war es auch seine mitreißende Art, die manches Mal über eine vermeintlich schwer zu lösende Situation hinweghalf. Einen weiteren Schlüssel zum Erfolg inklusiver Arbeit sieht der passionierte Imker und engagierte Lokalpolitiker im Zusammenspiel unterschiedlicher Fachleute: «Es geht kein Weg daran vorbei, entwicklungspsychologisches, heilpädagogisches und therapeutisches Fachwissen vor Ort im Kita-Team zu integrieren.»

Im Haushaltsnotlageland Bremen mussten Deutschlands Begründer der Kita-Integration auch massive Kürzungen hinnehmen. So wurde beispielsweise die wöchentliche Förderzeit pro Kind reduziert. Ein Rückschritt für die Pädagogen. Doch der Ansatz, nach dem jedes behinderte Kind ohne Aussonderung in seinem Stadtteil gemäß seiner individuellen Voraussetzungen gefördert werden soll, dieser Ansatz gilt noch immer.

Dafür hat Haase-Bruns über Jahrzehnte gekämpft. Und damals wie heute ist er überzeugt: «Es gibt keine zweite Garnitur Gottes – Inklusion erweitert den Blick auf alle Menschen einer Gesellschaft.» Der Weg, den Melek genommen hat, bestätigt ihn und seine Mitstreiter. Das gilt auch mit Blick auf die dramatischen Prognosen der Ärzte Ende der1980er Jahre. Denn: Melek lebt!
Source: Kirche-Oldenburg