Mindestens 90 Menschen hat der Krankenpfleger Niels Högel getöet, viele davon in Oldenburg. Was die Taten für die Bewohner der Stadt bedeuten und wie sie dort nachwirken, versucht ein Dokumentar-Theaterstück zu ergründen.

Oldenburg/Göttingen (epd). Eines möchte Julia Roesler gleich mal klarstellen. «Wir bereiten kein Stück über den Serienmörder Niels Högel vor», sagt die Regisseurin des Theaterkollektivs Werkgruppe2. «Sondern ein Stück darüber, wie eine Stadt wie Oldenburg die Tatsache verarbeitet, dass dort die Klinikmorde stattgefunden haben.» In Oldenburg und Delmenhorst hat Högel einen Großteil seiner zahlreichen Morde begangen, Anfang Juni wurde der frühere Krankenpfleger zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Dokumentar-Theaterstück, an dem die Werkgruppe2 zurzeit arbeitet, hat am 29. Februar am Oldenburgischen Staatstheater Premiere.

Vor etwa zwei Jahren, erzählen Roesler und Dramaturgin Silke Merzhäuser, hätten sie begonnen, sich in den Fall Högel einzulesen. «Wir fanden spannend, wie da verschiedene Aspekte zusammenkamen. Einmal der Mordprozess. Aber auch: Was kann Justiz überhaupt leisten? Wie funktioniert ein Krankenhaussystem, in dem so etwas möglich ist? Und schließlich: Was bedeutet es, wenn man in Oldenburg lebt, also dort, wo diese schrecklichen Taten in einer solchen Dimension stattgefunden haben?» Aus dem Interesse für den Fall entstand die Idee, aus der Idee die Projektskizze für die Inszenierung.

«Zurzeit betreiben wir noch Forschungsarbeit», sagt Roesler. «Wir interviewen Angehörige der Opfer und Überlebende – aber das nur, wenn wir auf persönlichem Weg Kontakte herstellen können.» Eine öffentliche Ankündigung des Vorhabens durch die Werkgruppe2 kurz vor Prozessbeginn war in Oldenburg auf Kritik gestoßen. «Pietätlos», lautete ein Vorwurf. Die Theatermacherinnen sprechen aber auch mit Krankenhausbeschäftigten, Theologen, Psychiatern und Juristen. «Also mit Menschen, die mit ihrer Expertise auf dieses Ereignis blicken und uns erklären können, was das bedeutet für eine Gesellschaft.»

16 Interviews haben Roesler und Merzhäuser bislang geführt, einige sollen noch dazu kommen. Die Gespräche werden Wort für Wort abgeschrieben, «da entstehen dann viele Hundert Seiten Text». Aus dem Material destillieren die Frauen den späteren Theaterstoff. Sie suchen nach Geschichten hinter der Geschichte: «Nach dem, was im Prozess und auch in der Presse noch nicht so dargestellt wurde.» Viele Medien hätten die Geschichte vereinfacht. Sie hätten «täterfixiert erzählt, um das Böse in diesem Mann herauszustellen».

Mit ihrem dokumentarischen Theater will und kann die Werkgruppe2 andere Schwerpunkte setzen, sie fokussiert sich auf Hintergründe und Auswirkungen. Merzhäuser sagt, sie interessiere zum Beispiel, «dass es bei den Angehörigen ja zwei Wellen der Trauer gab». Die erste kam, als die Patienten zwischen 2000 und 2005 starben. Und die zweite um 2014, als bekannt wurde, «dass es kein natürlicher Tod war oder kein der Erkrankung geschuldeter Tod, sondern dass es den Verdacht auf Mord gab.»

Die Werkgruppe2 ist in Rosdorf bei Göttingen zu Hause. Das Kollektiv, zu dem als dritte noch die Komponistin und Musikerin Insa Rudolph gehört, besteht seit 13 Jahren. Mit professionellen Ensembles versuchen die Frauen, in dokumentarischen Projekten soziale Wirklichkeit aus der Perspektive von Menschen zu beschreiben, die zu gesellschaftlichen Minderheiten, zu den Unsichtbaren und Ausgeklammerten gehören.

«Viele unserer Gesprächspartner sind erstaunt, wenn wir erzählen, Högel wird in dem Stück gar nicht vorkommen», sagt Roesler dann noch. «Die können sich ein Theaterstück über die Klinikmorde gar nicht vorstellen, wenn dieser Mensch nicht personifiziert auf der Bühne ist.» Die vier Darsteller aus dem Oldenburger Ensemble seien «eher ein Hybrid». Es sei schon so, dass sie auch Menschen verkörpern, dann aber auch wieder ihre Rolle verlassen sollten.

Source: Kirche-Oldenburg