Nicht warten, bis jemand kommt, sondern hingehen, wo die Menschen sind: So funktioniert eine neue missionarische Bewegung, die in Deutschland stetig wächst. Unter dem Stichwort «Fresh X» will sie frischen Wind in die kirchliche Arbeit bringen.
Stade (epd). Schepsi ist ein echter Kampfschmuser. Wenn Pastorin Sabine Ulrich (42) mit ihrem kleinen Jack-Russell-Terrier im Stader Neubauviertel Riensförde bei Hamburg unterwegs ist, fliegen dem Hund gleich alle Herzen zu. Und die beiden sind in ihrem Quartier viel auf der Straße unterwegs. Denn ein Kirchengebäude gibt es in Riensförde nicht. Deshalb probiert Sabine Ulrich im Stadtteil «Fresh Expressions of Church», kurz «Fresh X» aus – neue Ausdrucksformen von Kirche. Und Missionshund Schepsi, wie die Pastorin ihren Vierbeiner selbst nennt, ist meistens dabei.
Mal geht es mit Kaffee, Kuchen und Saft im Bollerwagen auf den Spielplatz, mal in den Kirchenladen vis-à-vis vom Supermarkt. Auch im benachbarten Stadtteil Ottenbeck sind sie unterwegs, einem ehemaligen Kasernengelände, ebenfalls ohne Kirchturm. Dafür gibt es dort die «Caffeetante», ein Café, das für viele Nachbarn als beliebter Treffpunkt längst zum Wohnzimmer im Quartier avanciert ist. Dort sitzt Pastorin Ulrich regelmäßig, auf ihrem Tisch ein Schild mit der Einladung zu einem «guten Gespräch über Gott und die Welt». Oder sie organisiert Begegnungen im umgebauten Trafo-Haus der ehemaligen Kaserne.
Ungewöhnliche Aktionen an ungewöhnlichen Orten: Das ist das Konzept von «Fresh X», einer ökumenischen Bewegung, die aus England nach Deutschland gekommen ist, um Gemeinden neu aufzubauen. «Christus hat es uns vorgemacht: Wir sollen das Evangelium dort leben, wo die Menschen sind – im Vereinsheim, in der Kneipe oder im Shopping Center», sagte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, einmal über «Fresh X»: «Gefragt sind frische Formen von Kirche und Pioniere, die neue Formen erproben und Ungewöhnliches wagen.»
Pastorin Ulrich gehört mit ihrer Arbeit im Auftrag der evangelischen hannoverschen Landeskirche zweifellos zu diesen Pionieren. Andere organisieren beispielsweise Jugendarbeit in der süddeutschen Kletterkirche Metzingen, Gottesdienste im Oldenburger Tattoo-Studio oder Angebote für Kinder im sozialen Brennpunkt bei den Kasseler «Jumpers». Zu den schätzungsweise 200 «Fresh X»-Initiativen in Deutschland gehören ganz unterschiedliche Angebote.
Sie seien weder Anhang noch Brücke ins Bestehende, sondern eigenständige Formen von Gemeinden, erläutert Michael Herbst, Theologieprofessor und Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald. Und betont: «Für sehr unterschiedliche Zielgruppen.» So ist es auch bei Pastorin Ulrich, die mit ihrem Stader Projekt «Raumzeit» mal Kinder, mal ganze Familien und dann auch Senioren anspricht.
Sie initiiert Kochtreffs, Spielzeiten und Bastelaktionen. Sie bietet Räume an, Gesprächsräume: «Unterwegs sein, nach den Bedürfnissen der Nachbarn im Quartier fragen, mit Menschen reden, das ist mir wichtig», sagt die Pastorin, die hin und wieder einfach Tische auf die Wiese in Riensförde stellt und zur «Brotzeit» einlädt: gemeinsames Abendbrot verbunden mit entspanntem Klönschnack. «Da entsteht Nachbarschaft», ist Ulrich überzeugt.
So unterschiedlich die Projekte sind, so gleichen sie sich doch im Kern in vier Punkten. «Sie wenden sich an Menschen, die nicht oder kaum in die Kirche kommen, richten sich an ihren Bedürfnissen aus, wollen lebensverändernd und gemeinschaftsbildend wirken», erläutert Birgit Dierks, Geschäftsführerin des deutschen «Fresh X»-Netzwerkes mit Sitz in Berlin. Insgesamt lässt sich sagen: Der missionarische Impuls ist Teil der gemeinsamen DNA. «Sie bewegen sich auf Menschen zu, die noch nicht glauben», formuliert es Professor Herbst.
Sie wolle dabei niemanden bedrängen oder bekehren, betont Ulrich. Stattdessen teilt sie ihr Leben mit den Menschen in Riensförde, wohnt dort in einem Reihenhaus, will unvoreingenommen auf Menschen zugehen und so zeigen, wie sie ihren Glauben lebt: offen und zugewandt. Für Pastor Barry Sloan, «Fresh X»-Aktivist der methodistischen Kirche, sind das wichtige Voraussetzungen für einen nächsten Schritt: «Wenn dann Fragen aufkommen, kann man aufrichtig von seinem Glauben erzählen, ohne dass es im schlechten Sinne missionarisch wirkt.»
In Deutschland beteiligen sich landeskirchliche, freikirchliche und katholische Initiativen am «Fresh X»-Netzwerk. Das Stader Modellprojekt begann 2017 und ist zunächst bis 2021 befristet. Die verbleibende Zeit will Ulrich weiter nutzen, um «hinzugehen, da zu sein und zu hören, was anliegt». Natürlich mit Schepsi. Und mit ihrem Bollerwagen, ergänzt sie und schmunzelt: «Mit Kaffee im Gepäck und der Hoffnung, dass es nicht regnet.»
Source: Kirche-Oldenburg