Die Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes verleiht heute ihren diesjährigen Gottesdienstpreis an die Christus- und Garnisonskirche in Wilhelmshaven. Ihr schönes Format der Passionspunkte hat die Jury der Gottesdienststiftung nachhaltig überzeugt! In der Auslobung des diesjährigen Preises standen Gedenkgottesdienste, bzw. liturgische Formate als Beiträge zur Erinnerungskultur im Mittelpunkt. In Wilhelmshaven haben Sie nun schon zum 16. Mal das gottesdienstliche Format „Passionspunkte“ in der Stadtöffentlichkeit gefeiert. An markanten Orten, mit Menschen aus Kultur, Politik und Kirche und in einer weiten politischen und stadtgesellschaftlichen Deutung der Passionsgeschichte haben sie die Stadtöffentlichkeit fein und tiefsinnig mithineingenommen in eine konkrete und erlebbare Nacherzählung der Passion Jesu, die sich auf das Leben und das Erinnern in Wilhelmshaven bezieht!
Die Passionspunkte 2016 fanden bei Ihnen statt unter der Überschrift „Zwischen 435 Menschen und 12 Mill. Zugvögeln.“ Konkrete Punkte der Passion waren ein Zentrum der Flüchtlingshilfe, ein ehemaliger Bunker, ein Haltepunkt am Kanonenrohr des Marinemuseums als Erinnerung an die Skagerrak-Schlacht, ein Ort am offenen Meer wo 12 Millionen Zugvögel auf ihren Reisen eine Rast einlegen, ein Besuch in der Kunsthalle. Gemeinsam an Orte der Erinnerung und der Geschichte der Stadt zu gehen, eine Kerze anzuzünden, Experten zu Wort kommen zu lassen, den Erinnerungsort musikalisch zu füllen, den Texten der Passion ungewöhnliche Verbindungen zu anderen Orten des Geschehens zukommen zu lassen – all das macht Erinnerung lebendig. Wenn die Musik den Raum oder den Ort anders zum Schwingen und Klingen bringt, dann spüren wir oft auch den Raum neu – so wie heute auch! Zahlen bekommen neue andere Dimensionen: Anzahl von Toten, die die Stadt zu betrauern hat, die 28 cm Durchmesser des Kanonenrohres, die auf die Geschossstärke der Kanone anspielt, die 12 Millionen Zugvögel mit ihren Reisegeschichten, die 2 m als Symbol für den Klimawandel mit ansteigendem Wasserpegel und seinen Herausforderungen, die 12 Jünger und die Wilde 13.
Die Entwicklung ihrer Passionspunkte bringen in einmaliger Weise zum Ausdruck wie Sie Ihre Stadt immer wieder neu betrachten, aus anderen Blickwinkeln, mit anderen Brillen, mit erinnernden und verbindenden Sichtweisen, die eines stärken: die gemeinsame Identität in der Stadtöffentlichkeit, die Auseinandersetzung mit Orten mit Symbolgehalt und den gemeinsamen Blick für die aktuellen Herausforderungen. So verknüpfen Sie Geschichte und Erinnerung mit Theologie. Sie weisen vorsichtig darauf hin, wo eine Stadt Verletzungen, Sensibilisierungen oder auch tiefe Wunden erfahren hat und wie sie damit umgeht. Sie nicht fortzuwischen, zu übertünchen oder wegzukehren. Es bleiben Passionspunkte – Punkte die uns an die Verwundbarkeit unseres menschlichen Zusammenlebens erinnern, an die Brüchigkeit und Mehrdeutigkeit, an Herausforderungen der Zukunft. Solch ein Blick auf die Stadt macht deutlich, dass unser Leben verwundbar bleibt. Die Passionszeit ist ein wichtiger Ort dafür im Kirchenjahr und gibt Raum, dies zu erinnern. Wunderbar haben Sie das in Ihrem Konzept miteinander verbunden!
In der Stadtsoziologie gab es vor einigen Jahren einen interessanten neuen Forschungsschwerpunkt, der die Betrachtung einer Stadt mit dem Lesen eines Buches verglich. „Reading the city“ untersuchte, wie Besucher, Gäste und Einheimische ihre Stadt verstehen, begreifen, lesen. In der Topographie wichtiger Symbolorte erhält eine Stadt ihr Gesicht, ihr Profil, ihre Lesart. In diesem Sinne haben Sie – wie auch die Jury befand – die Stadt Wilhelmshaven gottesdienstlich kartographiert. Durch diese liturgisch gestaltete Lesart haben Sie mit viel Ausdauer ein schönes Konzept geschaffen, das aus der Stadtkultur nicht mehr wegzudenken ist.
Wir glauben oft, eine Stadt nach einiger Zeit zu kennen, kennen ihr Gesicht, ihre Anmutung, ihre Stimmungen, ihren Lärm und ihre Rhythmen. Umso schöner ist es, dass Sie sich mit ihrem Konzept jedes Jahr aufs Neue auf den Weg machen, neue markante Punkte liturgisch zu bedenken, und damit Teil einer einladenden öffentlichen Gottesdienstkultur sind.
Deshalb wünschen wir diesem Konzept weiterhin eine so gute Resonanz, viele Menschen, die davon berührt werden. Sicherlich wird dabei manche Verletzung auch geheilt. Und wir wünschen Ihnen weiterhin diese Kreativität, das Gedächtnis der Stadt und sein Vermächtnis wachzuhalten.
Oberkirchenrätin Inken Richter-Rethwisch, Evangelische Kirche in Deutschland