Hannover (epd). Der scheidende niedersächsische Diakoniechef Christoph Künkel hat die Politik zu einem mutigeren sozialen Handeln aufgerufen. Ein Viertel aller Beschäftigten in Deutschland arbeite laut einer Statistik der Bundesregierung im Niedriglohnsektor, sagte der Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Damit verdiene jeder vierte Arbeitnehmer nicht genug, um später eine ausreichende Rente zu haben. "Viele von ihnen halten mindestens zwei Jobs und können sich selbst damit noch nicht einmal gesicherte Lebensverhältnisse schaffen", kritisierte der 59-jährige evangelische Theologe. Er wurde am Freitag in Hannover aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand verabschiedet.
In der Sozialpolitik werde es künftig Verteilungskämpfe zwischen Arm und Reich geben, die offensiv geführt werden müssten, unterstrich der Vorsitzende des größten niedersächsischen Wohlfahrtsverbandes mit rund 70.000 hauptamtlichen und ebenso vielen ehrenamtlichen Beschäftigten. "Offenbar läuft in der Wertschöpfungskette bei uns etwas falsch, weil der erarbeitete Wohlstand ungleich verteilt wird." Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ein soziales Auseinanderbrechen zu verhindern. "Die Forderung, dass die Reichen etwas abgegeben müssen, hilft allein nicht weiter. Wir müssen grundsätzlicher werden und zum Beispiel eine öffentliche Diskussion über Gehaltsstrukturen beginnen."
Zwar müsse die Digitalisierung ohne Frage weiter vorangetrieben werden, sagte der Oberlandeskirchenrat, der bereits seit zehn Jahren die Diakonie in der hannoverschen Landeskirche leitet. Sie werde aber noch mehr traditionelle Arbeitsplätze vernichten. Es gehe also darum, neue Jobangebote zu schaffen. "Ich bin sehr optimistisch, was die Kreativität angeht, wenn das Problem erst einmal erkannt und benannt wird."
Künkel hob hervor, dass bestimmte soziale Bereiche wie die Pflege nicht dem Gewinnstreben des Marktes untergeordnet werden dürften. "Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde ein wirtschaftlicher Wettbewerb in der Pflege geschaffen, bei dem es nicht um eine Steigerung der Qualität ging, sondern darum, die Mitarbeitenden zu knechten." Die Folge sei eine Lohnspirale nach unten gewesen. "Wenn nicht mehr der Mensch das Ziel des Handelns ist, sondern die Rendite der Anbieter, dann ist etwas schief", erläuterte der Sozialexperte.
Für ihn sei eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gleichberechtigt und selbstbestimmt leben könne ein Ansporn für politisches und soziales Handeln, sagte Künkel. "Christen haben früher vom Reich Gottes gesprochen, heute spricht man möglicherweise allgemeinverständlicher von Inklusion." Sie könnte eine Art Leitmotiv darstellen, wenn sie sich auf alle Bereiche beziehe, in denen Menschen an den Rand gedrängt würden.
Das gelte auch für die Flüchtlinge im Land. "Wir werden die damit zusammenhängenden Probleme hier in Deutschland mittelfristig lösen können", betonte der Theologe. "Die Kernherausforderung sehe ich jenseits unserer Grenzen: im Zusammenhalt Europas." Die Bekämpfung der Flüchtlingsursachen müsse erste Priorität haben. "Irgendwelche Lager in Nordafrika einzurichten, ist lediglich eine Verschiebung des Aufenthaltes von Menschen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben."
In einer zunehmend globalisierten Welt könnten sich die reichen Länder des Westens nicht länger von den ärmeren Nationen abschotten. "Wenn wir gern in fernen Ländern Urlaub machen, dürfen wir uns doch nicht wundern, wenn die dort lebenden Einheimischen auch Anteil an unserem Wohlstand haben wollen." Eine Lösung dieses Dilemmas werde es nur durch ein intensives politisches und finanzielles Engagement Europas geben, um den Menschen so ein angemessenes Leben in ihren Heimatländern zu ermöglichen.
Source: Kirche-Oldenburg