Am 3. Juni 1998 entgleiste der ICE «Wilhelm Conrad Röntgen» bei Eschede. Die Folgen des Zugunglücks sind bis heute zu spüren – vor allem für die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden wie Udo Bauch.
Eschede/Fulda (epd). Als am 3. Juni 1998 der ICE «Wilhelm Conrad Röntgen» bei Eschede gegen einen Brückenpfeiler prallt, sitzt Udo Bauch in einem Einzelabteil im Wagen 11. Der damals 30-jährige Regionalleiter einer Mineralölfirma hat den Laptop aufgeschlagen. Er bereitet sich auf eine Tagung vor, als er kurz vor 11 Uhr einen Knall hört, so laut wie noch nie in seinem Leben. Bei einem Tempo von 200 Kilometern pro Stunde bricht ein Radreifen. Der Zug entgleist. Ein Wagen reißt den Pfeiler einer Brücke weg. Die nachfolgenden Waggons schieben sich ineinander. 101 Menschen sterben. Die Fahrgäste werden zerquetscht oder eingeklemmt, 105 sind zum Teil schwer verletzt, so wie Udo Bauch.
20 Jahre später schlägt Bauch einen Leitz-Ordner auf seinem Esstisch auf. Er hat darin Zeitungsartikel über das Zugunglück abgeheftet. Der Ordner ist prall gefüllt, doch in den letzten Jahren wurde nur noch wenig berichtet. Wenn zum 20. Jahrestag das Unglück wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt, begrüßt er das, sagt der Familienvater aus dem hessischen Eichenzell: «Die Menschen denken, nach 20 Jahren wird schon alles wieder gut sein, aber das ist nicht so.»
Nach dem Unglück bangte seine Frau Monika wochenlang um ihn. Sie reiste Tag um Tag in eine Klinik nach Hannover, um bei ihm zu sein – mit einem ICE. Immer wieder notierte sie in ihr Tagebuch: «Udo ist noch nicht überm Berg.» Mühsam hat sich Udo Bauch wieder ins Leben gekämpft. Er hat wieder gehen gelernt. Sogar seinen Beruf nahm er für eine Zeit wieder auf, solange es eben ging. Bis heute ist er linksseitig teilweise gelähmt. Das Bein zieht er nach, die Hand kann er nur sehr eingeschränkt bewegen.
Nachdem juristische Auseinandersetzungen und der Kampf um Entschädigung hinter ihm lagen und er zur Ruhe kam, reagierte auch seine Psyche, erzählt er. Seitdem gilt er zu 100 Prozent als schwerbehindert. Das erste Mal begann sein linkes Bein zu zittern, als er in einen Zug einsteigen wollte, dessen Tür mit größerem Abstand zum Bahnsteig lag. In Menschenmengen, dann wenn er nicht einfach stehen bleiben und sich ausruhen kann, tritt das Zittern seitdem immer wieder mal auf. Manchmal kann er sich dann nicht mehr bewegen. Oft folgen Panikattacken. «Das ist für mich eine lebenslange Strafe.»
Wichtig wäre für ihn gewesen, dass die Bahn-Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Doch der Strafprozess wurde nach langem juristischen Tauziehen gegen eine Geldstrafe von 30.000 Euro eingestellt. «Das hat der Konzern gar nicht gespürt», sagt Bauch und seine Wut ist ihm immer noch anzumerken. Die Bahn habe grob fahrlässig gehandelt, weil sie den Zug mit einem abgefahrenen Radreifen auf die Reise schickte. Als sich 15 Jahre später der damalige Vorstandsvorsitzende Rüdiger Grube bei einer Gedenkveranstaltung als erster Bahnchef entschuldigte, habe dieser zwar öffentlich eine gute Figur gemacht. «Doch mir war das zu unpersönlich.»
Fünf Jahre nach dem Unglück hat Bauch ein Buch über seine Erfahrungen veröffentlicht. Inzwischen plant er ein weiteres – auch gegen das Vergessen. Nicht nur für ihn sei die ICE-Katastrophe noch längst nicht Geschichte sagt er. Noch schlimmer habe es diejenigen getroffen, die Angehörige verloren haben. «Es sind Kinder gestorben.
Das verwindet man nie.»
Bauch selbst fand Rückhalt in seiner Familie und bei Freunden. Zwei seiner vier Kinder sind nach dem Unglück geboren. Auf der Anrichte im Wohnzimmer lehnt zwischen den vielen Familienfotos auch die Geburtsanzeige seiner Enkelin, die vor einem Jahr auf die Welt kam. Bis heute hat er Kontakt zu dem Retter, der als erster seine Rufe aus dem Bahnwaggon hörte. Der Polizist aus Celle ist Patenonkel seiner zweitältesten Tochter. Auch zu anderen Überlebenden und Angehörigen hielt Bauch zunächst Verbindung. Die gebe es mittlerweile kaum noch, sagt er. «Jeder hat seine eigene Art, das Unglück zu bewältigen.»
Am 3. Juni wird an der Gedenkstätte in Eschede an das schlimmste Zugunglück der bundesdeutschen Geschichte erinnert, dazu hat sich auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) angekündigt. Schon am Vorabend plant die evangelische Kirche in dem Heideort bei Celle eine Andacht. Udo Bauch will dabei ein Fürbittengebet halten.
Als Christ sei ihm das wichtig, sagt er. Aus Dank für seine Rettung hat der gläubige Katholik im Garten hinter seinem Einfamilienhaus eine kleine Kapelle bauen lassen. Sie soll auch für andere ein Zufluchtsort sein. «Wenn wir den Mut verlieren, haben wir alles verloren», so hat er es bei der Einweihung im Mai 2000 formuliert. «Wer den Mut verliert, ist wie ein Vogel, der seine Flügel verliert.»
Source: Kirche-Oldenburg