Wenn eine Jüdin ganz gezielt das Gespräch mit einer Muslima sucht und ein konservativer älterer Herr die Gelegenheit nutzt, sich zum ersten Mal in seinem Leben mit einer homosexuellen Frau zu unterhalten, dann hat die „Lebendige Bibliothek“ ihr Ziel erreicht. Nach der positiven Resonanz im vergangenen Jahr hatten die Akademie der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg, die Volkshochschule und der Präventionsrat zum zweiten Mal die Aktion „Lebendige Bibliothek“ angeboten, bei der Menschen mit ungewöhnlichen Lebensläufen zu einem sehr persönlichen Gespräch von Besuchern „ausgeliehen“ werden können.
„Die Lebendige Bibliothek ermöglicht ganz besondere Gespräche, die sich sonst nie so ergeben würden“, betont Uwe Fischer von der Evangelischen Akademie. „Einige Besucher sind gleich zur Eröffnung gekommen und den ganzen Nachmittag geblieben, um sich mit möglichst vielen unterhalten zu können.“ 17 „Bücher“ standen zur Auswahl, sechs mehr als im Vorjahr. Zu den „Bestsellern“ gehörten unter anderem eine Deutsche, die zum Islam konvertiert ist, ein psychisch kranker Straftäter und ein Flüchtling. Erstmals hatten sich die Teilnehmenden bereits am Vormittag den Fragen von rund 60 Schülerinnen und Schülern des neunten Jahrgangs der Oldenburger Cäcilienschule gestellt. „Für die Jugendlichen war das eine gute Gelegenheit, in kleinen Gruppen intensiv ins Gespräch zu kommen und eventuelle Vorurteile abzubauen. Es war eine unglaublich lebendige Veranstaltung“, erzählt Anna Dosdrowska von der VHS Oldenburg. Vorurteile abzubauen sei das oberste Ziel der Veranstaltung. „Aber es geht erstmal darum, diese Vorurteile überhaupt zu reflektieren.“
Klare Vorgaben regeln das „Ausleihen der Bücher“. Ein respektvoller Umgang ist dabei selbstverständlich. Viele der „Bücher“ waren schon 2014 dabei. „Sowohl die Teilnehmenden als auch die Besucher waren im vergangenen Jahr so begeistert von der Idee, dass wir beschlossen haben, die Aktion zu wiederholen“, sagt AnnaDosdrowska. Zum zweiten Mal dabei war auch der psychisch kranke Straftäter, der sich seit sechs Jahren im Forensischen Maßregelvollzug befindet. „Nach den guten Erfahrungen im Vorjahr habe ich sofort wieder zugesagt“, erzählt er. „Ich war aufgeregt, zum ersten Mal auch Schülergruppen gegenüberzustehen. Aber meine Erfahrung ist, dass die Leute offen auf mich zugehen und sehr interessiert sind.“
Es sind sehr persönliche, intime Erlebnisse, über die jedes der „Bücher“ berichtet: Die junge Mutter etwa, die davon berichtet, dass sie direkt nach der Geburt ihres Kindes keineswegs sofort das ganz große Glück empfunden habe und damit ein Tabuthema anspricht. Oder der HIV-positive Mann, der davon erzählt, wie ihm die Menschen begegnen. Die Frau, die beschreibt, wie sie mit 45 Jahren richtig Lesen und Schreiben gelernt hat. Der Jude, der die Erfahrung gemacht hat, dass viele Menschen in Deutschland trotz Interesses nicht nach den Hintergründen des Judentums fragen, weil sie sich für die deutsche Geschichte schämen. Die Rollstuhlfahrerin, die ganz bewusst an der Aktion teilnimmt, um Berührungsängste mit behinderten Menschen abbauen zu helfen. Die „Lebendige Bibliothek“ ermöglicht es, neue Perspektiven zu bekommen und Fragen zu stellen, die vielleicht in einem anderen Zusammenhang nicht gestellt würden.
Anke Brockmeyer
Source: Kirche-Oldenburg