Müde bin ich, geh’ zur Ruh’

schließe beide Äuglein zu

Vater, lass die Augen dein

über meinem Bette sein

Die alte Frau erinnert sich an das Gebet, das ihre frühe Kindheit begleitet hatte.

Sie konnte es immer noch auswendig hersagen.

Längst hatte sie es abgetan, es war ihr zu kindisch, zu simpel. Es war verschüttet, verschüttet wie vieles was an die Kriegszeit erinnerte. Lange hatte sie gebraucht, um nach dem Krieg ohne Erschrecken die Flugzeuge wahrzunehmen, die in den sechziger Jahren wieder flogen, und das  Knattern eines Feuerwerks, das an die Flack hinter dem Hügel erinnerte oder den Klang der Sirene, der damals den nächsten Fliegeralarm ankündigte und damit verbunden den nächtlichen Marsch zum Bunker .

Erst jetzt – am Ende ihres Lebens – wird ihr klar: Das ruhespendende Gebet mit seinem getragenen Rhythmus gaben dem kleinen Kind Kraft, Halt und Geborgenheit fürs ganze Leben Vielleicht ist es doch nicht zu kindisch in Corona-Zeiten! 

Doris Semmler

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