Geschichten vom Kerzenbaum aus der Christus- und Garnisonkirche. Jede Kerze, die dort brennt, erzählte ihre eigene Geschichte.

Nach dem Gottesdienst am letzten Sonntag ist er noch sitzengeblieben. Die Kirche war schon leer, die Küsterin räumt die liegen gebliebenen Gesangbücher zusammen. Eigentlich ist er kein Kirchgänger. Das letzte Mal war er Heilig Abend hier, zusammen mit seinen alten Eltern. Aber heute ist ein besonderer Tag. Genau vor einem Jahr ist seine Frau gestorben. Mitten im Mai, als alle sich über den Frühling freuten, hatte sie es endlich geschafft. Wie sich das anhört. Doch es war irgendwie so. Lange hatte sie mit dem Krebs gekämpft. Doch nach vier Jahren und zahllosen Operationen hatte sie keine Kraft mehr. Während die Erinnerung an die Zeit vor einem Jahr an ihm vorüber zieht, steht der Mann auf und geht zum Kerzenbaum. Eben hat er bei einer anderen Frau gesehen, wie das geht: Er nimmt sich eine Kerze und steckt sie ganz nach vorn in den Halter. „Sybille“, er vermisst sie so sehr. Vor einem Jahr, zwei Wochen vor ihrem Tod, hatten sie zum ersten Mal zusammen gebetet. Er weiß bis heute nicht richtig, wie das geht. Aber jetzt denkt er ganz besonders an Sybille. Leise murmelt er ein paar Sätze, es kommt ihm so vor, als ob er mit ihr spricht. Nach einer Weile hebt er den Kopf wieder, streckt den Rücken durch und geht hinaus. Seine Traurigkeit vermischt sich mit dem Gefühl: Heute bin ich ihr wieder ganz nah gewesen.

 

Rüdiger Schaarschmidt

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