Gestern habe ich eine Phrase in den sprachlichen Sondermüll geworfen, heute möchte ich sie gerne wieder hervorholen. Es geht darum, dass man die Menschen dort abholen soll, wo sie stehen. Meine Schwester arbeitet als Pädagogin mit älteren Menschen, die oft an Demenz leiden. Für sie ist es sehr wichtig, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Sie leben oft in einer anderen Realität, und sie sehen vieles auf ihre ganz eigene Weise. „Diese Menschen mit der allgemeingültigen Realität zu konfrontieren, das kränkt sie und verärgert sie oft noch zusätzlich“, sagt meine Schwester. „Warum muss ich die alte Frau von über 90 Jahren, die mir erzählt, sie gehe gleich zu ihrer Mutter zum Kaffee, warum muss ich sie denn unbedingt darauf hinweisen, dass ihre Mutter schon lange nicht mehr lebt? Es tut der Frau viel besser, wenn ich sie nach dem Namen ihrer Mutter frage. Oder vielleicht danach, ob sie auch einen Haarknoten hatte, oder was sie besonders gut kochen konnte.“ Wenn ich ihr solche Fragen stelle, fühlt sich die alte Frau mit den Löchern im Gedächtnis angenommen und strahlt, sagt meine Schwester. Das ist dann auch Realität.

 

Rüdiger Schaarschmidt

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