Ich mache einen Trauerbesuch.  

Die alte Mutter ist gestorben, ihr Mann ging schon vor Jahren.

Mit den drei Kindern, alle über 50,  sitze ich in der Stube.

Sie sprechen über ihre Mutter, tragen die schönen Bilder zusammen, das, was lustig war, — und das Schwere auch.

Ziemlich bald ist klar, dass die  große Schwester, die älteste, irgendwie außen vor ist.

Die beiden anderen reagieren gereizt auf sie, korrigieren sie, fallen ihr ins Wort.

Manchmal wird es unangenehm – und wir versuchen, das Gespräch wieder einzufangen.

Das gelingt auch – und im Laufe des Abends wird es immer besser.

Es entsteht ein im wahrsten Sinne des Wortes lebendiges Bild der Verstorbenen vor meinem Auge.

Ihre drei Kinder bekommen das gut hin – sie kann stolz auf sie sein, denke ich.

Als ich mich so langsam auf den Weg machen will, es ist spät geworden, merke ich, dass sie gerne noch zu viert weiter reden wollen. Ob ich nicht noch bleiben könne?

Irgendwann sagt die kleine Schwester:  

“Sie müssen wissen, wir drei sitzen heute das erste Mal seit 5 Jahren an einem Tisch.

Wir hatten zu unserer großen Schwester keinen Kontakt. 

Also gar keinen.    

Wir haben uns im Krankenhaus am Bett unserer Mutter das erste Mal seit Jahren wiedergesehen.”

Ich schlucke.   Und bleibe noch mal eine halbe Stunde.

Dann gehe ich.

Auf der Straße denke ich:

Die größten Geschenke dieser Welt sind nicht zu bestellen oder zu kaufen.

Die größten Geschenke haben Namen wie Würde, Geduld, Versöhnung.

Stefan Stalling
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