Hannover/Berlin (epd). Annemarie Denecke erinnert sich noch gut an jene Tage, als die Corona-Krise die hannoversche Telefonseelsorge erreichte. Anfangs sei es vor allem um ganz handfeste Fragen gegangen: Soll ich mich auf Corona testen lassen, weil ich seit drei Tagen huste? Wie groß ist das Infektionsrisiko? Wie schütze ich mich am besten? Doch dann, Ende März, kamen mit Shutdown, Kontaktbeschränkungen und Abstandsgebot verstärkt seelische Nöte ins Spiel: Angst vor zermürbender Einsamkeit. Die Sorge, den ohnehin beschwerlichen Alltag nicht mehr meistern zu können, weil die sonst so hilfsbereiten Nachbarn auf Abstand gehen. Wut darüber, nicht zum schwer kranken Vater ins Pflegeheim zu dürfen. Quälende Ohnmacht bei dem Gedanken, dass er mutterseelenallein sterben könnte.
«Uns haben vor allem Menschen angerufen, die schon vor Corona psychisch labil oder einsam waren. Die plötzlichen Einschränkungen durch die Corona-Pandemie haben für viele von ihnen eine ohnehin schwierige Lebenssituation zusätzlich verschärft», berichtet Denecke, die zu den rund 100 ehrenamtlich Engagierten im Team der Telefonseelsorge Hannover gehört. Wie ihre Kolleginnen und Kollegen gibt auch die 68-Jährige ihren wirklichen Namen nicht preis. Denn die Anonymität schützt die Seelsorger einerseits vor persönlichen Verstrickungen in die oftmals schweren Schicksale der Anrufer und andererseits vor allzu distanzlosen Klienten.
Fragen zu Corona selbst, Depressionen, Ängste, Suizidgedanken – und eben ganz besonders die Einsamkeit: Das seien die beherrschenden Themen der zurückliegenden Monate gewesen, sagt Denecke. «Gerade die Einsamen wollen in dieser Zeit oft einfach nur Nähe spüren.» Besonders um Ostern, in einer Zeit, die nicht nur Christen üblicherweise mit Gemeinschaft und Freude verbinden, seien die Telefone förmlich heiß gelaufen.
Und das gilt nicht nur in der Dachgeschosswohnung unweit des hannoverschen Stadtzentrums, in der die Beratungseinrichtung ihren Sitz hat. Bundesweit verzeichnete die gemeinsam von evangelischer und katholischer Kirche getragene Telefonseelsorge seit Beginn der Corona-Maßnahmen einen deutlichen Anstieg der Kontaktaufnahmen. Führten die Telefonseelsorger im Februar noch rund 97.000 Gespräche, waren es im März bereits rund 113.000 und im April, also unmittelbar nach dem Shutdown, gar mehr als 117.000. Auch jetzt, da der einstige Ausnahmezustand längst als «neue Normalität» bezeichnet wird, liegen die Zahlen noch immer deutlich über dem Üblichen.
«Die Sorgen und Nöte der Menschen sind in Corona-Zeiten zunächst keine anderen als sonst auch. Aber manche davon treten gerade jetzt mit erhöhter Dringlichkeit zutage», sagt Pastorin Kerstin Häusler, die die hannoversche Telefonseelsorge leitet. «Was hier bei uns im kleinen Maßstab an Themen aufläuft, sagt auch etwas über die Großwetterlage», ist die Theologin überzeugt. «Derzeit fallen Schlaglichter auf die Nöte der Einsamen, auf die Menschen in den Pflegeheimen, auf Eltern, die sich zwischen Home-Office und Home-Schooling aufreiben, auf Kinder, die sich lange Zeit kaum mit Gleichaltrigen treffen konnten und auch jetzt noch längst keinen normalen Alltag haben.» Deutlicher als zuvor werde sichtbar, wie fragil sicher geglaubte Verhältnisse seien. «Allein das führt dazu, dass viele Menschen schneller aus der Bahn geworfen werden und nach Hilfe suchen», sagt Häusler.
Pastor Bernd Blömeke, Referent für Telefonseelsorge im Diakonie Bundesverband, stellt ebenfalls direkte Effekte der Corona-Situation auf das Arbeitsaufkommen der bundesweit etwa 6.500 Freiwilligen in den 104 Telefonseelsorge-Stellen fest. Er verweist auf eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universität Freiburg, die im Auftrag der Vereinten Nationen beleuchtet, inwieweit sich der Bedarf nach psychologischer Hilfe seit dem Ausbruch der Pandemie verändert hat. Dort, wo lokale Maßnahmen zur Eindämmung des Covid-19-Virus besonders streng und umfassend ausfallen, hätten die örtlichen Telefonseelsorger besonders viel zu tun.
«In den ersten Corona-Monaten lag das Augenmerk sehr auf Krisenmanagement, auf der Eindämmung rein gesundheitlicher Risiken und dem Schutz besonders verletzlicher Gruppen. Dass dieser extreme Zustand und die damit verbundenen Maßnahmen viele Menschen auch seelisch zeichnen, wird hingegen erst nach und nach deutlich», betont Pastorin Häusler. Deshalb sei es entscheidend, nicht nur an Hygienekonzepten, Verhaltensregeln und guter medizinsicher Versorgung zu arbeiten, sondern auch umfassende psychosoziale Unterstützung sicherzustellen.
Annemarie Denecke leistet dafür einen Beitrag. Knapp 30 Schichten im Jahr, mal tagsüber, mal die ganze Nacht lang, sitzt sie im schlichten Beratungszimmer der hannoverschen Telefonseesorge. In einer Ecke des kleinen Raums steht eine gemütliche Polsterliege. Auf der könnte sie sich zwischendurch mal langmachen. Doch daran ist nicht zu denken. Das beigefarbene Tastentelefon auf dem Schreibtisch klingelt nahezu ununterbrochen. «Klar, manche Schicht ist stressig, mitunter belastend, aber ich bekomme von den Menschen unendlich viel Zuspruch und Dankbarkeit zurück», sagt Denecke. «Und manchmal muss ich überhaupt nicht viel tun. Oft reicht es, einfach zuzuhören.»
Source: Kirche-Oldenburg