In dieser Woche erzähle ich Ihnen hier Geschichten vom Kerzenbaum aus der Christus- und Garnisonkirche. Oder besser, die Kerzen erzählen ihre Geschichte.

Die junge Frau stürzt die Treppen zur Kirche hoch. Mit einem Griff hat sie die Glastür aufgestoßen. Dann stürmt sie schimpfend nach vorn. „Du hast du mir die Klausur vermiest!“ Zornig wirft sie einen Blick nach vorn, erst zum Altarbild, dann zum Kreuz. Die junge Frau ist sauer. Am Anfang läuft sie unruhig auf und ab, dann legt sie sich auf eine Bank und lässt die Beine in den Gang hinein baumeln. Nach ein paar Minuten richtet sie sich auf. Ihre Gesichtszüge haben sich etwas entspannt. Langsam steht sie auf, geht zum Kerzenbaum, steckt eine Münze in den Schlitz und nimmt sich eine Kerze aus dem Fach. Nachdem sie ihre Kerze an der großen in der Mitte angezündet hat, sucht sie einen Halter an der linken Seite. Neben der großen ist es die einzige Kerze, die heute hier brennt.

Ihr anfänglicher Zorn scheint verraucht zu sein. „Ich hätte ein bisschen mehr üben können“, murmelt sie leise. „Das nächste Mal gebe ich mein Bestes, mehr geht eben nicht.“ Sie spricht noch ein kurzes Gebet, dann geht sie langsam nach hinten. Am Ausgang steht der Pastor und hält ihr die Glastür auf. „Na, alles okay?“ – „Jaja“, sagt sie, „läuft“ und schlägt ihn kurz ab. Dann läuft sie zu ihrem Rad und fährt los.

 

Rüdiger Schaarschmidt

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