Es war im Jahr 1944. Ich war gerade einmal sechs Jahre alt. Wir wohnten damals im Erdgeschoss eines Mietshauses. Auf der halben Treppe – also im Zwischengeschoss – hatte eine allein stehende ältere Frau gewohnt. Sie war herzkrank. Wenn die Sirenen heulten, den Fliegeralarm ankündigten, mussten wir sofort in den Bunker gehen. Eines Tages tippelte ich wie immer an der Hand meiner Mutter in völliger Dunkelheit die wohlbekannte Straße entlang zum Bunker. Da hörte ich ein lautes Keuchen. Ich wusste: da, wo das Keuchen herkam, war eine Treppe. Saß da vielleicht die herzkranke Frau und konnte nicht weitergehen, weil sie einen Herzanfall hatte? Kümmerte sich jemand um sie? Ich habe es nie erfahren. Aber sie kam nicht in ihre Wohnung zurück, und ich erfuhr später, dass sie gestorben war. Ob sie Versandte hatte? Ich weiß es nichts Von einer Beerdigung erfuhr ich nichts. Das Leben mit Fliegeralarm tags und nachts ging weiter. Aber auch für diese Frau gilt: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Ein tröstliches Wort auch für mich in Zeiten, in denen Sterben zu sehr zum Alltag gehört.

Doris Semmler
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