Heute an Bord, morgen geht’s fort – Die Insel gibt mich nicht wieder her. Springtide, Ostwind und Wintereinbruch auf einmal, das ist zuviel für die verschlickte Fahrrinne. Das Jahr fängt an und ich liege auf dem Trockenen. Der Schiffsdienst von und nach Wangerooge hat seinen Betreib eingestellt. Ich hätte es wissen müssen. Unzählige Male habe ich das Schild am Anleger gelesen: Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt. Sich entschleunigen ja, aber ausgebremst werden nein, das geht mir zu weit. Ich sage meine Termine am Festland ab, bin genervt. Als es endlich klappt, dauert die Rückreise sechs Stunden statt 90 Minuten. Gedrängel im Zug, stickige Luft an Bord.

Gott schuf die Wartezeit und schenkt mit unverhoffte Begegnungen: der Studententyp, der seine 87jährige Oma unendlich fürsorglich an Land bringt, das verliebte Pärchen, das mit meinen Kindern Stadt, Land, Fluss spielt. Die Frau, die den Jahreswechsel unfreiwillig allein auf der Insel verbracht hat. Komplett gestrandet hat sie sich an Silvester in der Inselkirche verkrochen, eine Kerze entzündet, der Musik gelauscht, das Vaterunser gemurmelt und wieder Auftrieb bekommen. Als ich von Bord gehe, habe ich wieder eine Handbreit Wasser unterm Kiel. Das Jahr ist noch jung. Die neue Woche kann losgehen.

 

Christian Scheuer, Kreispfarrer des Ev.-luth. Kirchenkreises Friesland-Wilhelmshaven

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