Ich habe einen Freund, dem ich Feind war. Wenn er den Raum betrat, stellten sich mir die Nackenhaare hoch. Ich wusste schon vorher, was gleich kam. Und er kannte mich gut genug, um mich aus der Reserve zu locken. Am Ende geriet jede Besprechung zum großen Krach und wir trennten uns in aller Feindschaft. Feindschaften spornen mitunter zu Höchstleistungen an, sind aber auch wahnsinnig anstrengend. Ist es nicht viel besser, seine Feinde zu lieben?

Das große Wort von der Feindesliebe in die Tat umzusetzen, war gar nicht so schwer, wie ich dachte. Schnell habe ich entdeckt, dass an meinem Gegenüber gar nicht alles schlecht ist. Seine Kritik war nicht immer unberechtigt, er machte mich auf Fehler aufmerksam, die mir manche Freunde und Schmeichler aus Gefälligkeit lieber verschweigen hatten. Er gab mir so die Gelegenheit, an meine Schwächen zu arbeiten und zu wachsen. Indem ich das zu respektieren begann, machte ich innerlich auch meinen Frieden mit ihm. Mehr noch, ich entdeckte, dass wir uns in vielen Dingen ähnlich waren. Ich begann ihn für seine Leidenschaft und seinen Gerechtigkeitssinn zu mögen. Als mein Feindbild zerbrach, war es ein leichtes, ihn eines Mittags spontan zum Essen einzuladen. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

 

Christian Scheuer

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