„Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen. Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt im warmen Golde fließen.“ Ich glaube, viele von Ihnen können das Gedicht von Eduard Mörike schon nach wenigen Worten mitsprechen. Haben es vielleicht einmal aufgeregt vor der ganzen Klasse auswendig vorgetragen. Der englische Ausdruck für Auswendiglernen heißt „learning by heart“ – „Mit dem Herzen lernen“, die Englischlehrer unter Ihnen mögen mir die wörtliche Übersetzung verzeihen. Die Welt um mich herum mit dem Herzen wahrnehmen, das gelingt mir besonders gut draußen in der Natur. Am frühen Septembermorgen auf dem Weg zur Arbeit. Die Sonne lugt schon zaghaft hervor, aber der Boden ist von einer dichten Nebelschicht bedeckt. Die Kühe auf ihren Weiden sieht man nur zur Hälfte, der Rest ist wie in Watte eingehüllt. Der Wald wirkt ruhig und geheimnisvoll. Durch solch einen herbstlichen Laubwald sehe ich den Dichter spazieren, als die ersten Sonnenstrahlen des Tages diesem einen goldenen Farbton verleihen. Dieser Anblick trifft mitten ins Herz und er fasst die Bilder in Worte. Die Welt dreht sich immer weiter – unbeirrt von allen Krisen und Katastrophen, seit Jahrtausenden einem festen Rhythmus folgend. Und ich bin ein Teil davon. Das hat etwas Tröstliches für mich. Manchmal ist es das warme, satte Herbstlicht, in dem ich Gott entdecke – learning by heart.
Nicole Ringsdorf
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