Wir kennen die Phrase, dass man die Menschen dort abholen soll, wo sie stehen. Oft ist das wirklich eine hohle Phrase, doch manchmal hat sie auch ihren besonderen Wert.  Meine Schwester hat mir von ihrem Schwiegervater erzählt. Er lebte als weit über 90jähriger in einem betreuten Wohnen in Hessen. Nachdem er sich einmal verlaufen hatte, wollte er das Haus nicht mehr verlassen. Nun war er bereit, in ein Pflegheim in die Nähe von Sohn und Schwiegertochter zu ziehen. Mein Schwager und sein Bruder hatten alles für den Umzug in einen Transporter gepackt. Es sollte gerade losgehen, da sagte der alte Mann zu seinem Sohn: „Ich muss Dir reinen Wein einschenken. Ich habe wieder geheiratet und kann nicht mitfahren.“ Mein Schwager war sprachlos – und versuchte Zeit zu gewinnen. „Ach da rufen wir mal die Raphaele an, vielleicht hat die eine Idee.” Meine Schwester hat den alten Mann dann am Telefon beruhigt. „Du kannst ruhig schon mal kommen und dich umschauen. Das nächste freie Zimmer reservieren wir für deine Frau.“ Der alte Mann war sehr erleichtert und ist beruhigt mitgefahren. Von seiner neuen Frau war nie wieder die Rede. Die Realität ist zuweilen erstaunlich irrational.

 

Rüdiger Schaarschmidt

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