Ich bin mit einer jungen Mutter in unserem Gemeindehaus verabredet. Sie braucht für ihre Tochter Alia einen Fahrradhelm.

Für 10 Uhr. Aber sie taucht nicht auf. Um viertel nach zehn bin ich schon am Gehen, entschließe mich aber, dann doch noch zu warten.

Ich denke an unser letztes Treffen.

Sie war mir gleich sympathisch. Sie heiße Genna, sagte sie auf Englisch mit starkem Akzent – und hat mir ihre Hand und ein Lächeln gereicht.

Sie war mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern vor wenigen Monaten aus Syrien geflohen. Bei einem Kaffee hat sie mir von diesen schlimmen Tagen erzählt. Wie schwer es war, sich zu entscheiden, loszugehen – und alles zurückzulassen. Verwandte, Arbeitskollegen, Freunde, die Schule der Kinder.

Sie erzählte mir von ihrer langen Odyssee nach Europa, von der Angst vor der Zukunft – aber auch von ihrer Hoffnung, dass es einen neuen Platz zu leben geben könnte für sie und ihre kleine Familie.

Ich schaue auf meine Uhr. Gleich halb elf.

Dann geht die Tür auf – und Alia kommt rein, die Tochter.

„Mama kommt gleich“, sagt sie. „Sie musste noch beten“.

Darauf weiß ich erstmal nichts zu sagen. Dann kommt Genna.
Wir sehen und an – und ich denke:
Ich habe gewartet, sie hat gebetet.  Beides war richtig und gut.

 

Anke Stalling

Hören Sie diesen Beitrag bei Radio Jade:
Alle Beiträge im Überblick | RADIO JADE